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Der Dorfpfarrer (German Edition)

Der Dorfpfarrer (German Edition)

Titel: Der Dorfpfarrer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Pariserin wäre in diesem Momente vielleicht von Véronique besiegt worden.
    »Sie trägt es seit dreizehn Jahren, hat es angelegt, als sie den Kleinen entwöhnt hatte,« sagte die Alte, auf den jungen Graslin weisend. »Sie hat hier Wunder getan, doch wenn man ihr Leben kennte, müßte sie heiliggesprochen werden! Seit sie hier ist, hat niemand sie essen sehen; wissen Sie warum? Aline bringt ihr dreimal täglich ein Stück trocknes Brot auf einer großen Aschenschüssel und in Wasser, ohne Salz, gekochte Gemüse in einem roten irdenen Napf, ähnlich jenen, in denen man den Hunden das Futter hinstellt! Ja, so nährt die sich, die diesem Bezirk das Leben gegeben hat! ... Sie hält ihre Gebete kniend auf dem Rande ihres Büßerhemdes. Ohne diese Kasteiungen, sagt sie, könnte sie nicht die lachende Miene haben, die Sie an ihr sehen. Ich sage Ihnen das,« fuhr die Alte mit leiser Stimme fort, »damit Sie es dem Arzte wiederholen, den Monsieur Roubaud aus Paris herbringen will. Wenn er meine Tochter hinderte, ihre Bußübungen fortzusetzen, würde er sie vielleicht noch retten, obwohl des Todes Hand bereits auf ihrem Haupte ruht. Sehen Sie! Ach, ich muß wohl recht stark sein, daß ich seit fünfzehn Jahren all diesen Dingen widerstanden habe!«
    Die alte Frau nahm die Hand ihres Enkelkindes, hob sie auf und legte sie sich auf die Stirn und auf die Wangen, wie wenn diese Kindesfaust einen stärkenden Balsam ausströme; dann drückte sie einen Kuß voll der Liebe darauf, deren Geheimnis den Großmüttern ebensogut wie den Müttern gehört. Véronique war in Clousiers, des Pfarrers und Gérards Begleitung bis auf einige Schritte an die Bank herangekommen. Durch den sanften Glanz der untergehenden Sonne erhellt, erstrahlte sie in furchtbarer Schönheit. Ihre gelbe Stirn, von langen Falten, die wie Wolken eine über der anderen lagen, gefurcht, gab, durch innere Unruhen hindurch, einen festen Gedanken zu erkennen. Ihr aller Farbe bares Gesicht war vollkommen weiß wie die matte und grünliche Weiße sonnenloser Pflanzen, zeigte magere Linien ohne Härte und trug die Spuren großer physischer, durch moralische Leiden hervorgerufener Schmerzen. Sie bekämpfte den Geist durch den Körper und umgekehrt. Sie war so völlig zerstört, daß sie sich selber nur glich wie eine alte Frau ihrem jungen Mädchenbilde gleicht. Der glühende Ausdruck ihrer Augen zeigte die despotische Herrschaft, welche ein christlicher Wille über den Leib ausübt, der auf das zurückgeführt ist, was er nach der Religion Willen sein soll. Bei dieser Frau schleifte die Seele das Fleisch hinter sich her wie der Achilles der Profandichtung Hektar hinter sich herschleifte; sie zog es siegreich über die steinigen Straßen des Lebens, hatte es fünfzehn lange Jahre um das himmlische Jerusalem, das sie nicht listig, sondern inmitten triumphierender Zurufe zu betreten hoffte, herumgeschleift. Niemals war einer der Einsiedler, die in den trockenen und dürren afrikanischen Einöden hausten, mehr Herr seiner Sinne gewesen, als es Véronique inmitten dieses herrlichen Schlosses, in diesem reichen Lande weicher und wollüstiger Ausblicke, unter dem schützenden Mantel dieses unermeßlichen Waldes war, in welchem die Wissenschaft, die Erbin des Mosesstabes, Ueberfluß, Reichtum und Glück für eine ganze Gegend hervorsprudeln ließ. Sie betrachtete die Ergebnisse zwölfjähriger Geduld, ein Werk, das den Stolz eines überlegenen Mannes gebildet hätte, mit der sanften Bescheidenheit, die Pontormos Pinsel dem erhabenen Antlitze seiner »Christlichen Keuschheit, die das himmlische Einhorn liebkost«, verliehen hat. Die fromme Schloßherrin, deren Schweigen von ihren beiden Gefährten geachtet wurde, als sie sahen, daß ihre Augen auf den unendlichen, ehedem dürren und jetzt fruchtbaren Weiden verweilten, ging mit gekreuzten Armen, die Augen auf die Straße am Horizont geheftet.
    Plötzlich blieb sie zwei Schritte vor ihrer Mutter, die sie betrachtete, wie Christi Mutter ihren Sohn am Kreuze muß angeblickt haben, stehen, hob die Hand auf und wies auf die Abzweigung des Montégnacer Weges von der Hauptstraße hin.
    »Sehen Sie«, sagte sie lächelnd, »die mit vier Postpferden bespannte Kalesche dort? Monsieur Roubaud kommt zurück. Bald werden wir wissen, wie viele Stunden ich noch zu leben habe.«
    »Stunden?« sagte Gérard.
    »Hab' ich Ihnen nicht gesagt, daß ich meinen letzten Spaziergang mache?« antwortete sie Gérard. »Bin ich nicht gekommen, um dies schöne

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