Der Dorfpfarrer (German Edition)
bei Diskussionen an den Tag legte, wo es sich doch nicht um Gefühl handelte, das für sie des Lebens Seele war. Man sah sie oft mit gebannten, stumpfsinnigen Augen, wenn sie zweifelsohne an die Stunden ihrer unwissenden Jugend dachte, die verflossen waren in jener Kammer voller Harmonien, die nun zerstört worden waren wie sie selber. Sie fühlte einen furchtbaren Widerwillen, in den Schlund der Kleinlichkeiten zu sinken, worin sich die Frauen bewegten, mit denen zu leben sie gezwungen war. Diese auf ihrer Stirne, auf ihren Lippen geschriebene und schlecht verhehlte Verachtung deutete man als die Unverschämtheit einer Emporgekommenen. Madame Graslin bemerkte auf allen Gesichtern eine Kälte und fühlte in allen Gesprächen eine Schärfe, deren Gründe ihr unbekannt waren, denn sie hatte es noch nicht zu einer Freundin bringen können, die ihr nahe genug stand, um von ihr aufgeklärt oder beraten zu werden. Die Ungerechtigkeit, die Kleingeister empört, bringt erhabene Seelen zu sich selber zurück und teilt ihnen eine Art Demut mit: Véronique verurteilte sich, suchte ihr Unrecht. Sie wollte freundlich sein, man nannte sie falsch; sie verdoppelte die Liebenswürdigkeit, man erklärte sie für scheinheilig, und ihre Frömmigkeit kam der Verleumdung zu Hilfe. Sie stürzte sich in Unkosten, gab Diners und Bälle, sie wurde für hochmütig taxiert. Unglücklich in allen ihren Versuchen, schlecht beurteilt, zurückgestoßen durch den niedrigen und zänkischen Hochmut, der die Provinzgesellschaft auszeichnet, wo jeder immer mit Prätentionen und Besorgnissen bewaffnet ist, geriet Madame Graslin in die tiefste Einsamkeit. Voller Liebe kehrte sie in den Arm der Kirche zurück. Ihr hochstrebendes Gemüt, das von einem so schwachen Fleische umgeben war, ließ sie in den vervielfachten Geboten des Katholizismus ebenso viele längs der Abgründe des Lebens eingerammte Steine, ebenso viele von barmherzigen Händen herbeigetragene Schutzpfähle sehen, um die menschliche Schwäche während der Reise zu stützen; sie befolgte also mit größter Strenge die geringsten religiösen Uebungen. Die liberale Partei rechnete Madame Graslin nun zu der Zahl der Stadtfrommen, sie wurde in die Ultras eingereiht. Zu den verschiedensten Beschwerden, die Véronique unschuldigerweise veranlaßt hatte, fügte der Parteigeist also sein periodisches Außersichsein hinzu; da sie aber nichts bei diesem Ostrazismus verlor, gab sie die Gesellschaft auf und warf sich auf die Lektüre, die ihr unendliche Hilfsquellen bot. Sie dachte über die Bücher nach, verglich die Methoden, vermehrte auf übermäßige Weise die Tragweite ihrer Intelligenz und den Umfang ihres Unterrichts; und so öffnete sie die Pforte ihrer Seele der Wißbegierde. Während dieser Zeit der hartnäckigen Studien, wobei die Religion ihren Geist unterstützte, errang sie die Freundschaft Monsieur Grossetêtes, eines jener Greise, in denen das Provinzleben die Ueberlegenheit abgestumpft hat, die aber im Kontakt mit einer lebhaften Intelligenz einige glänzenden Eigenschaften irgendwie wiedergewinnen. Der Biedermann interessierte sich lebhaft für Véronique, die ihn für die alten Herren eigentümliche salbungsvolle und milde Herzenswärme lohnte, indem sie für ihn als ersten die Schätze ihrer Seele und die Herrlichkeiten ihres Geistes, die so heimlich gepflegt wurden und nun mit Blüten bedacht waren, entfaltete. Das Fragment eines zu jener Zeit an Monsieur Grossetête geschriebenen Briefes wird die Lage schildern, in welcher sich diese Frau befand, die eines Tages die Beweise eines so festen und edlen Charakters liefern sollte:
»Die Blumen, die Sie mir für den Ball geschickt haben, waren herrlich, haben mir aber grausame Gedanken eingeflüstert. Diese hübschen Geschöpfe, die von Ihnen gepflückt und dazu bestimmt wurden, an meinem Busen und in meinen Haaren zu vergehen, indem sie mich für ein Fest schmückten, ließen mich an die denken, die in Ihren Wäldern erblühen und vergehen, ohne gesehen zu werden, und deren Düfte von niemandem eingeatmet worden sind. Ich habe mich gefragt, weshalb ich tanze, warum ich mich schmücke, ebenso wie ich Gott frage, wozu ich auf dieser Welt bin. Wie Sie sehen, lieber Freund, ist alles eine Falle für den Unglücklichen; die heitersten Dinge bringen die Kranken auf ihr Leiden zurück; doch das größte Unrecht gewisser Leiden ist die Beharrlichkeit, die sie zu einer Idee werden läßt. Würde ein ständiger Schmerz nicht göttlicher Gedanke
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