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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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»Meine schwarze Staatskarosse? Trop lourde pour une faible dame! Und warum überhaupt? Streikt Ihre japanische casserole ?«
    »Ich muss doch sehr bitten, es ist ein italienisches Fabrikat.« Ihren Wagen wolle sie ihren beiden jungen Gästen überlassen, sie selbst müsse dringend nach Merlingen zurück, erklärte Rosa. Woraufhin Chassang ihr liebevoll die vielen Altersgebrechen und Störgeräusche seines CS beschrieb. Aber fahrtüchtig bleibe er natürlich doch, »wie wir Alten ja auch, n’est-ce pas! « Sogar wenn er von hundert Schüssen durchlöchert werde. Ob Rosa sich noch erinnern könne, wie die OAS seinerzeit auf den CS des großen Charles de Gaulle geballert habe, »1962, auf der Avenue de la Libération in Paris? Aber in so gefährliche Situationen werden Sie ja wohl kaum geraten. Hoffe ich jedenfalls.« Er lachte, aber sein Blick war eindringlich und besorgt. Schließlich nickte er, für Rosa das Zeichen, dass die Leihgabe damit geregelt war.
    Der Abend mit Maurice und Lilith endete wie der vorherige am Feuer. Rosa spendierte einige Rebenstrünke, die Chassang ihr mitgegeben hatte. Sie brannten wie Zunder. Es war gemütlich und ruhig; die drei sprachen wenig, jeder hing seinen Gedanken nach. Rosa zog sich früh zurück. In ihrem Zimmer schrieb sie eine kurze Nachricht und um drei Uhr nachts verließ sie nach kurzem Schlaf leise das Haus. Durch dunkle Gassen erreichte sie den Dorfplatz. Dort stand die Limousine für sie bereit. Im Licht einer Straßenlaterne glänzte sie schwarz. Chassang musste sie noch geputzt und poliert haben.
    Rosa hatte Angst vor der Fahrt. Weniger vor den Rückenschmerzen, die sich nach zwei, drei Stunden unweigerlich einstellen würden. Solche Schmerzen konnte sie aushalten, das wusste sie längst. Nein, ihre Angst entstammte den hundert Ungewissheiten – unwillkürlich fielen ihr die hundert Projektile ein, die seinerzeit auf den großen General der Grande Nation abgefeuert wurden. »Wenn du wüsstest, wie gefährlich die Situation ist, in die ich mich …«, flüsterte sie und dachte voller Rührung an Rémy Chassang. Er hatte genau gespürt, wie wichtig ihr ihr Anliegen war, sonst hätte er ihr seinen Wagen, sein ganzes Heiligtum, bestimmt nicht überlassen. Rosa musste lächeln … Bilder der vergangenen Tage tauchten auf. Lilith und Maurice auf der Terrasse, Sie schnitt ihm das Stirnhaar, ihre konzentrierten Augen nur Schlitzchen, die Zungenspitze fast an der Nase. Maurice kniend auf dem Küchenfußboden, nachdem er mit dem Schneidebrett in der Hand gestolpert war, beim Einsammeln von Karottenscheibchen, unablässig sacré coeur, sacré coeur grummelnd, weil ihm auf Französisch kein richtiger Fluch zu Gebote stand … Doch Schluss jetzt! Besser, sie verbot sich solche Erinnerungen. Sie machten ihr nur noch schmerzlicher bewusst, dass sie jetzt ganz allein war, allein am Steuer, allein mit ihrer Beklommenheit.
    Was eigentlich wollte sie in ihrem Städtchen? Sie wusste es selbst nicht genau. Sich Gewissheit verschaffen? Und worüber? Mit Severin sprechen? Das ja, vielleicht.
    Sobald sie an ihren Sohn dachte, drängten sich ihr in vorauseilender Panik beängstigende Bilder auf. Sie sieht sich vor der schweren Eingangstür zum Pfarrhaus stehen. Sie öffnet und ruft ins Dunkel. Niemand antwortet. Severins Mantel hängt als schlaffe, leere Hülle am Kleiderständer. Ihre Hand wühlt in den Taschen und in denen seiner Jacken. Plötzlich spürt sie Severins Nähe, dreht sich um und da steht er direkt hinter ihr. Sein ermatteter Blick trifft sie mitten ins Herz …
    Bei Valence flüchtete sich Rosa in den Windschutz eines deutschen Lkws. Er rollte stur und irgendwie behäbig dahin und sie fühlte sich von allen Zwängen befreit. Wie die Aufkleber verrieten, transportierte der Laster Kühlgut. Immer und immer wieder las sie die Aufschriften: Westerloh Kühlsysteme Kassel. Kühle Fracht /vor Ort gebracht. EU-Norm 345.56. Wir fahren für Sie! Das beruhigte sie, lenkte sie ab. Endlich kam etwas Ordnung in ihre Gedanken. Auch ich brauche meine Gewissheiten, kleine Wahrheiten, dachte sie. Ich fahre zu meinem Sohn. Das war klar und eindeutig. Besänftigend. Nicht alles war Chaos. Es musste kleine Wahrheiten geben, auf die sie sich stützen konnte. Halblaut versuchte sie sich an einigen »Ich bin Severins Mutter« – »Ich bin eine alte Frau« – »Ich liebe meinen Sohn« – »Ich habe Fehler gemacht« – »Fehler kann man ausbügeln«. Sie stutzte und dachte grimmig: Aber nicht dieses

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