Der Drache am Himmel
mit dem Film an die Öffentlichkeit. Das würde ihm auch einen gewissen Schutz verschaffen.«
»Das will er nicht. Weil das den Druck von Bellini nähme. Shandar meint, sie könnten mehr herausholen, wenn …«
»Mehr herausholen? Wenn die Bedingungen, unter denen die Kinder arbeiten, publik werden, muss Bellini reagieren. Sofort für Sicherheit sorgen.«
»Vielleicht denkt er an die anderen Kinder. An die, die jetzt schon krank oder verletzt sind …«
»Für die ist bereits gesorgt. Sag das Shandar.«
»Woher weißt du das?«
»Glaub mir, ich weiß es einfach. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Henry! Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass Aldo noch so etwas wie Reste eines Verantwortungsbewusstseins hätte?«
»Vertrau mir, Réa. Alles wird gut.«
»Ich wundere mich nur. Aldo? Du behauptest allen Ernstes, er habe das alles nicht gewollt? Ich meine, natürlich, er hat selbst Kinder, aber …«
»Du hast es erfasst«, schnitt ich ihr betont unfreundlich das Wort ab. Ich wollte weg von diesem Thema.
»Also gut. Ich sag es Shandar. Aber ein sicheres Versteck braucht er trotzdem. Du hast doch so gute Beziehungen, Henry! Bitte! Für heute Nacht kann er im Lagerraum eines Restaurants unterkommen. Aber danach muss er fort aus der Stadt, so weit wie möglich.«
Ob Rosa bereit wäre zu helfen? In ihrem Haus in Südfrankreich würde Shandar in Sicherheit sein. Aber wie sollte er dorthin kommen? Nachdem ich Réa versprochen hatte, gleich am nächsten Morgen ein paar Telefonate zu führen, gelang ihr so etwas wie ein Lächeln. Dann erkundigte sie sich noch nach meiner Ghana-Reise. So weit möglich, gab ich Auskunft, sagte also fast gar nichts. Bevor sie ging, wollte sie wissen, ob sie mich in einen Loyalitätskonflikt zu Aldo gebracht habe. Ich verneinte und doch begriff ich in diesem Augenblick, dass ich meine Rolle als Freund aller ausgespielt hatte.
Sie machte sich auf den Heimweg.
Als ich, von Wasserdampf und Erschöpfung eingenebelt, unter der Dusche stand, vernahm ich die Stimme meiner Meisterin: »Allen wirst du zum Beichtvater, mein Henry! Du machst dich!« Ihre Sticheleien piksten mich wie die Brausestrahlen, die auf mich einprasselten. Später allerdings, nachdem ich zu Barbara unter die Decke geschlüpft war, kamen mir doch Zweifel, ob ich die Stimme wirklich vernommen hatte. Meine Frau schmiegte sich an meinen Rücken und nuschelte im Halbschlaf: »Ist sie endlich weg?« Sie legte eine wundersam kühle Hand an meinen Nacken und tauchte wieder ab.
Ich jedoch verblieb lange in einem Dämmerzustand. Eindrücke der vergangenen Nächte und meiner drei Gäste schoben sich ineinander. Die Gesichter verflüchtigten sich, um gespenstisch aus anderen Gesichtern neu heraufzudämmern. Die Stimmen meiner Besucher verflossen zu einer einzigen, eindringlichen … Mir kam es wie ein Kampf vor. Ich war ihr gemeinsamer Widersacher und doch waren sie mir alle gut gesinnt. War ich wach? Schlief oder halluzinierte ich? Aber ich konnte doch wahrnehmen, wie Barbaras Atem über meine nackte Schulter huschte. Jeder Hauch ein kleines Geheimnis. Flüchtige Luftwirbel wisperten auf meiner Haut. Zärtlichkeit kann man sogar hören , dachte ich. Plötzlich war es ohne Bedeutung, ob ich noch bei Sinnen war. Ich war einfach hier. Die Nacht war still. Ich lag in einem weltvergessenen Haus, versponnen in diesen schwebenden Augenblick. Eine selige Gelassenheit durchströmte mich. Ich will es mal so sagen: Ich war ganz nahe daran zu spüren, was Glück ist. Aber natürlich war mein Verstand schamlos genug, sich meinen Empfindungen zu widersetzen. Er probte den Aufstand: Schluss mit den Gefühlsduseleien, Henry! Einem paradoxen Wesen wie dir stehen solche Emotionen nicht zu. Deine Aufgabe ist fast gelöst. Morgen schon wird das Gefüge des Städtchens in seinen Grundfesten erschüttert sein. Nichts wird mehr verhindern können, dass das Böse triumphiert. Für dich beginnt jetzt die Zeit der Ernte.
Doch dieses eine Mal war mein Verstand nicht übermächtig. Ich bin mir fast sicher, dass ich lächelnd und mit innigen Gedanken an Barbara einschlief.
10
Adler
W ürden Sie mir für ein paar Tage Ihren Citroën ausborgen?«, überrumpelte Rosa ihren Nachbarn und langjährigen Freund Rémy Chassang, nachdem sie ihn endlich in den Feldern aufgestöbert hatte, wo er abgestorbene Rebstöcke ausbuddelte. Der massige Weinbauer mit den bedrohlich buschigen Augenbrauen wischte sich die Hände an seiner Hose ab, bevor er sie umarmte.
Weitere Kostenlose Bücher