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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schnell in der Handfläche des Doktors und wanderte von dort in seine Arzttasche.
    Rachel war empört, aber niemand sonst schien den Vorfall bemerkt zu haben. Sie wirbelte herum, um ihn zur Rede zu stellen, die Augen noch voller Tränen. Aber der Ausdruck in seinem Gesicht, der furchtbare Gram, brachte sie zum Verstummen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.
    »Seoman soll er heißen«, erklärte der Doktor mit heiserer Stimme, als er sich ihr näherte und sie aus dunklen Augenhöhlen seltsam ansah. »Ihr müsst für ihn sorgen, Rachel. Seine Eltern sind tot.«

    Ein schneller Atemzug. Rachel hatte sich gerade noch gefangen, bevor sie vom Hocker rutschte. Am helllichten Tag einzunicken – sie schämte sich für sich selbst! Aber das zeigte eben nur, wie sträflich sie sich heute abgerackert hatte, nur um einen Ausgleich für das Fehlen der drei Mädchen zu schaffen … und für Simon.
    Was sie brauchte, war ein bisschen frische Luft. Auf einem Hocker zu stehen und wie eine Verrückte mit dem Besen herumzufuchteln – kein Wunder, wenn man dabei melancholisch wurde. Sie musste einfach einen Augenblick hinaus ins Freie; sie hatte weiß Gott ein Recht auf frische Luft. Was war dieser Simon doch für ein Nichtsnutz!
    Natürlich hatten sie ihn großgezogen, sie und die Kammerfrauen. Susanna hatte keine Verwandtschaft in der Nähe, und über ihren ertrunkenen Mann, Eahlferend, schien überhaupt niemand so recht etwas zu wissen; also blieb der Junge auf dem Hochhorst. Rachel hatte so getan, als mache sie einen Riesenaufstand deshalb, aber sie hätte ihn ebenso wenig fortgelassen, wie sie ihren König verraten oder die Betten nicht gemacht hätte. Rachel war es auch, die ihm den Namen Simon gegeben hatte. Alle, die in königlichen Diensten standen, nahmen einen Namen von Warinsten, der Heimatinsel König Johans, an. ›Simon‹ klang am ehesten wie ›Seoman‹, also blieb es bei diesem Namen.
    Rachel stieg langsam die Stufen zum Erdgeschoss hinunter. Sie fühlte sich ein ganz klein wenig wacklig auf den Beinen und wünschte, sie hätte einen Mantel mitgenommen, denn es würde frisch sein. Die Tür knarrte – eine schwere Tür, deren Angeln wohl wieder einmal geölt werden mussten –, und Rachel trat in den Eingangshof. Die Morgensonne steckte eben erst ihre Nase über die Zinnen und spähte herein wie ein neugieriges Kind.
    Die Kammerfrau mochte diesen Ort, gerade unter dem steinernen Übergang, der den Speisesaal mit dem Hauptbau der Kapelle verband. Der kleine Hofgarten im Schatten des Überganges war voller Kiefern und Heidekraut, verteilt auf kleine, sanft ansteigende Hügel; der ganze Garten war nicht mehr als einen Steinwurf lang. Wenn sie nach oben schaute, über den steinernen Laufgang hinweg, konnte sie den nadelspitz aufragenden Engelsturm sehen, der weiß in der Sonne glänzte wie ein Stoßzahn aus Elfenbein.
    Es hatte eine Zeit gegeben, erinnerte sich Rachel, lange vor Simons Geburt, in der sie selbst ein Mädchen gewesen war und in diesem Garten gespielt hatte. Wie manche von ihren Mägden darüber lachen würden – allein der Gedanke: der Drache als kleines Mädchen! Aber das war sie gewesen, und danach eine junge Dame –und keineswegs unansehnlich, auch das war nichts als die Wahrheit. Damals war der Garten erfüllt gewesen vom Rauschen der Brokat- und Seidenstoffe, vom Lachen der Damen und vornehmen Herren, die den Falken auf der Faust und ein heiteres Lied auf den Lippen gehabt hatten.
    Simon dagegen, der immer glaubte, er wüsste schon alles – Gott schuf junge Männer eben dumm, und damit hatte es sich. Diese Mädchen hatten ihn fast unrettbar verzogen und hätten es ganz geschafft, wenn Rachel nicht ein Auge auf ihn gehabt hätte. Sie wusste, was sich gehörte, auch wenn diese jungen Dinger anderer Meinung waren.
    Früher war alles anders, dachte Rachel … und bei dem Gedanken wollte der Kiefernduft des schattigen Gartens ihr das Herz zusammenschnüren. Ein wunderbarer, aufregender Ort war die Burg gewesen: hochgewachsene Ritter mit Helmbüschen und schimmernden Rüstungen, und schöne Mädchen in prächtigen Kleidern, und die Musik … ach, und erst der Turnierplatz, juwelenbunt von Zelten! Jetzt lag die Burg in tiefem Schlaf und träumte nur. Über die hochragenden Zinnen herrschten Leute wie Rachel: Köche und Köchinnen, Kammerfrauen, Seneschalle und Küchenjungen …
    Wirklich, es war etwas kühl. Rachel beugte sich vor, zog ihr Umschlagtuch enger und richtete sich dann jäh auf. Sie starrte

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