Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
nicht verschlossen.«
»Alberner Moorkopf!« Ben lachte. Aber er konnte sich nicht erinnern, tatsächlich geprüft zu haben, ob die Tür verschlossen war. Hatten sie einfach Glück gehabt?
»Schtt«, zischte Nica, und sie drangen Schritt für Schritt tiefer unter die Anhöhe.
Es dauerte nicht lange, da stießen sie auf den endgültigen Beweis, dass dieser Gang von Menschen angelegt worden war, zumindest zum Teil. Grob aus dem Stein gehauene Stufen führten an seinem Ende in die Höhe.
»Jetzt vorsichtig mit den Fackeln«, flüsterte Ben. »Nicht dass man von oben ihren Schein zu früh sieht.«
Also löschten sie zwei, bevor sie langsam die gewendelte Treppe in die Höhe stiegen. Zum Glück war sie nicht allzu
schmal, ein Drache von Feuerschuppes Größe ohne Flügel musste sich hier noch durchzwängen können. Hoffentlich maß der Gesuchte nicht zwanzig Schritt oder war ausgesprochen breit.
Nach zahlreichen Windungen erreichten sie endlich eine schwere, eisenbeschlagene Tür. Die letzte brennende Fackel steckten sie in einen Riss in der Wand dreiunddreißig Stufen weiter unten, so dass ihr Schein nicht bis hier hoch reichte. Dann drückten sie die knirschende Klinke runter, und die Tür schwang auf.
Sie öffnete sich in einen aus grauem Stein gemauerten Gang, nirgendwo waren Fenster oder auch nur schmale Schießscharten zu sehen. Das einzige Licht stammte von einer Fackel, die weit vor ihnen in einer Halterung hing. Da jeder unterirdische Raum in Samoths Reich eindrang und man seine Dunkelheit fürchtete, brannten in Klöstern und Tempeln dort stets Fackeln, um zu zeigen, dass Hellwahs Licht jeden Ort erhellen konnte. Außer dem leisen Knistern der Flamme vernahmen sie keinen Laut.
»Los«, flüsterte Yanko.
Leise schritten sie voran, die Kapuzen der groben Kutten über die Köpfe gezogen. Dabei achteten sie darauf, sich so natürlich wie möglich zu bewegen, weder gebückt noch auf Zehenspitzen, um bei einer zufälligen Entdeckung keinen verdacht zu erwecken, weil sie wie Eindringlinge wirkten.
Kaum hatten sie die Fackel passiert, teilte sich der Gang. Yanko deutete nach rechts, wo im Schein einer weiteren Fackel Stufen zu erkennen waren, die in die Höhe führten. Ben und Nica nickten. Der Gang links endete nach wenigen Schritt an einer wuchtigen Tür mit massiven Scharnieren aus schwarzem Stahl, die ein Stück weit offen stand. Durch
den Spalt erkannte Ben Eisenstangen wie von einem Käfig. Er packte Yanko am Arm, deutete darauf und wisperte: »Da sind Gitter.«
»Ja und?«, gab er ebenso leise zurück.
»Wenn nun dort...«
»Im Keller befinden sich üblicherweise die Zellen für Menschen«, sagte Nica. »Wieso sollen sie denn einen Drachen hier unten hineinpferchen? Durch diese engen Flure?«
»Und wenn sie es trotzdem tun? Wie dämlich wäre es dann von uns, oben durch den Innenhof zu schleichen, wo uns jeder sehen kann? Ich schaue besser kurz nach...«
Natürlich glaubte er selbst nicht wirklich daran, doch warum sollten sie nicht einmal Glück haben? Wenn es die kleinste Möglichkeit gab, dass sie nicht dort hinausmussten, wo sie jederzeit von einer Wache entdeckt werden konnten, dann wollte er sie prüfen. Auf keinen Fall wollte er dem Abt in die Hände fallen.
Langsam näherte er sich der Tür, lauschte und vernahm ruhiges Atmen, als schlafe dort jemand. Handelte es sich dabei um einen Gefangenen oder einen Ritter? Nach einem Drachen klang es nicht. Dennoch schob er vorsichtig den Kopf in den Türspalt.
Auch in dem länglichen Raum dahinter brannte eine Fackel, doch in ihrem Schein war weder ein Ritter noch ein Drache zu erkennen. Die Gitter, die Ben gesehen hatte, gehörten zu einer engen, kahlen Zelle für Menschen. Es war nicht die einzige – ein gutes Dutzend Zellen reihte sich rechts und links die Wände entlang.
Viele schienen leer zu sein, nur in der vordersten kauerte ein äußerst bleiches, zitterndes Mädchen, ihr Haar schimmerte beinahe weiß wie das einer Greisin. Mit den Armen hatte
sie die Knie umklammert, die Augen standen offen und stierten in die Flamme der Fackel.
Einen Augenblick lang hatte Ben das Gefühl, sie zu kennen, dann erkannte er sie wirklich.
»Anula...« Er stolperte in den Raum, ohne darauf zu achten, ob sich in irgendwelchen Ecken doch ein Wärter aufhielt.
Sie sah furchtbar aus, so schmal und leblos, und er wusste, was der Schimmer in ihrem Haar bedeutete. Bei dem Gedanken, wie viel eisig stechenden Schmerz sie fühlen musste, krampfte sich sein Magen
Weitere Kostenlose Bücher