Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
das Gold und die Edelsteine hatten und daraus Schmuck fertigten. So nahm die Zahl von Raunas Großen Schlüsseln über die Jahrhunderte beständig ab. Bis eben wusste ich nicht, dass überhaupt noch einer existiert.«
In Bens Kopf drehte sich alles. Ein Schlüssel, dessen Zauber ein Gebäude uneinnehmbar machte. Wenn das wirklich stimmte, könnten sie damit den Orden aussperren, egal, mit welcher Übermacht dieser nach ihnen suchte. Sie benötigten nur ein Haus, einen Turm oder eine alte verlassene Burg, die sie sich aneignen konnten. Ein Gebäude, das er, Yanko und Nica auf den Drachen durch die Luft verlassen und betreten konnten, denn dann wären sie selbst unter Belagerung nicht eingesperrt.
Er schluckte. Ganz selbstverständlich hatte er Yanko und Nica in diesen Traum mit eingebunden. Schnell drängte er die Gedanken an die beiden wieder fort.
Konnte es einen solchen Schlüssel wirklich geben?, fragte er sich und antworte: Konnte es einen Jungen geben, der mit bloßen Händen abgeschlagene Drachenjlügel nachwachsen ließ? Er grinste, doch dann fiel ihm wieder ein, wo sie den Schlüssel gefunden hatten, und misstrauisch fragte er Kaedymia, weshalb sie dann den Turm dieser Ruine hatten betreten können, wenn der Zauber des Schlüssels so mächtig sei.
»Ich weiß es nicht, dafür kann es viele Gründe geben«, antwortete der Drache. »Wenn die Tür nicht geschlossen war, dann wirkt der Zauber nicht, er versiegelt nur verschlossene
Türen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ruine herrenlos war, dass es dort niemanden gab, der geschützt werden musste, und der Schlüssel erkannte euch als die neuen Besitzer an. Damit durftet ihr natürlich eintreten. Mit Sicherheit kann ich es dir nicht sagen, ich bin kein Schlüsselmacher, ich kannte nur den Drachen, der das Feuer für die Schlüssel gab.«
»Du kanntest ihn? Ist er tot?«
»Seit vielen Jahren. Aus irgendeinem Grund war er, der Vulkangeborene, besessen von dem Gedanken ans Meer. Er wollte seine Tiefen sehen, stürzte sich nach langem Zögern hinein und tauchte nicht wieder auf. Ich weiß nicht, ob ihn ein Seeungeheuer geholt hat oder ob sein Feuer im Wasser einfach erloschen ist.« Kaedymia starrte zu Boden und fuhr fort, doch es klang wenig überzeugt. »Vielleicht gefiel es ihm dort unten auch einfach so sehr, dass er deshalb nie wieder auftauchte. Schließlich gibt es einige Drachen, die im Wasser leben.«
Ben und Aiphyron sagten darauf nichts, sie sahen Kaedymia auch nicht in die Augen. Gemeinsam saßen sie schweigend in der Nacht, dann erhob sich Ben und legte Kaedymia noch einmal die Hände auf die heilende Brustwunde. Dabei spürte er, wie sich der flatternde Herzschlag des Drachen langsam beruhigte.
HUNDERT FRAGEN
E s war tiefe Nacht, und Yanko und Nica kreisten auf Juri und Feuerschuppe hoch über Vierzinnen. Ein paar geisterhaft dünne Wolkenschleier zogen von den Bergen her über sie hinweg und dämpften das Licht von Sternen und Mond. Die ersten Wolken seit Tagen, als wäre ihnen ein Gott wohlgesonnen, dachte Yanko. Endlich einmal.
Während Nica ununterbrochen die verlassenen Gassen unter ihnen absuchte, sah er immer wieder zu ihr hinüber. Manchmal machte ihm die eisige Hartnäckigkeit Angst, mit der sie den Hohen Norkham jagte, doch vor allem konnte er ihre Wut und ihren Hass verstehen. Alles hatte der verfluchte Ketzer ihr genommen, sie hatte nur noch Yanko. Und Yanko hatte auch nicht viel mehr, doch er war freiwillig aus Trollfurt fortgegangen. Würde er nun heimkehren, würde sein Vater ihn ganz sicher grün und blau schlagen, aber er würde ihn weder opfern noch für das ausgerufene Lösegeld an den Orden verkaufen. Und seine Mutter würde ihn nach den Prügeln wahrscheinlich pflegen und ganz vergessen, ihn zu tadeln. Beim Gedanken daran verspürte er einen Stich. Natürlich wollte er nie wieder zurück, und wenn er ehrlich zu sich war, konnte er es auch nicht. Irgendein Nachbar würde die tausend Gulden schon einstreichen wollen. Doch das änderte nichts daran, dass sein Schicksal weniger schwer war als das Nicas.
Wen er jedoch nicht verstehen konnte, war Ben. Einfach zu verschwinden, obwohl Nica ihn als Freund brauchte, das
war nicht richtig. Obwohl er ihn als Freund brauchte. Wenn ihm dieser fremde Drache wichtiger war als Nicas Recht auf Vergeltung, na gut, das musste Yanko nicht verstehen, aber das hätten sie doch in Ruhe besprechen können, gemeinsam einen Weg finden. Selbstverständlich hätten sie sich auch trennen und
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