Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
überdrüssig.
Zitternd sah Anula zwischen den Gitterstäben hindurch, hinaus auf die helle, sonnenüberflutete Ebene, durch die sie fuhren. Sie blickte einer kleinen Herde Wollrinder mit ausgelassen hüpfenden Jungtieren hinterher, die von der Kutsche davontrabte. All das versuchte sie aufzusaugen, doch selbst der schönste Anblick bedeutete ihr nichts. Die Kälte in ihr war zu stark.
Niemand hatte ihr gesagt, wohin sie gebracht wurde. Doch die Gesprächsfetzen, die sie hier und da aufgeschnappt hatte, hatten ihr das Wichtigste verraten. Sie sollte ein weiteres Mal verhört werden, dieses Mal von jemandem, der zu bedeutend war, um seine Zeit mit einer Reise in ihr Gefängnis zu verschwenden, weshalb sie zu ihm gebracht werden sollte. Der König, ein Fürst oder wer auch immer das sein mochte. Er würde sie befragen. Dabei hatte der Ritter das Wort so deutlich betont.
Befragen.
Anula starrte auf ihre steifen Finger und dachte unwillkürlich an Daumenschrauben. Die Kälte hatte sie so gefühllos gemacht, dass sie nicht einmal Angst empfinden konnte.
Würde sie die Schrauben spüren, oder würden ihre Finger einfach Risse bekommen und knackend springen wie Eis?
Glühende Eisen und rostige Zangen erschienen vor ihrem geistigen Auge, doch sie empfand nichts.
Er würde sie befragen, doch sie wusste nichts und spürte nichts. Kein Schmerz würde der Befragung ein Ende setzen. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wo das hinführte.
Wieder sah sie aus dem Wagen, hinauf in den blauen Himmel. Irgendetwas regte sich in ihr. Trotz aller Kälte wollte sie nicht sterben.
Die Ritter lachten wieder über einen Scherz, den sie nicht gehört hatte.
Sie schloss die Augen und legte die Decke zur Seite. Egal, wie kalt ihr war, es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass sie die Sonne sah. Sie wollte ihre Strahlen auf ihrer Haut wissen, auch wenn sie sie kaum spüren konnte.
DRITTER TEIL
DER DRACHE DES KETZERS
CHYBHIA
I ch sage doch, der weiß einfach alles«, brummte Aiphyron, nachdem ihnen Kaedymia die richtige Richtung nach Chybhia gewiesen hatte. Ben kam es vor, als habe diese nicht viel gemein mit der, in die sie ursprünglich geflogen waren.
»Danke«, sagte Kaedymia zu Ben. Erste, noch durchscheinende Schuppen bildeten sich bereits wieder auf der verheilten Brustwunde, und die Flügel waren so weit gerichtet, dass sie ihn nach ein, zwei weiteren Tagen Ruhe wieder würden tragen können. Noch konnte man eine dünne Naht erkennen, wo die Membran gerissen war.
»Keine Ursache«, wehrte Ben ab, froh, dass der Hauch von Verfall aus den Wunden verschwunden war, und auch ein wenig stolz. »Danke für dein Wissen und die richtige Richtung. Andere Drachen hätten sich da ohne Hilfe verflogen.«
»Jaja«, knurrte Aiphyron. »Jetzt steig schon auf und lass diese Lobhudelei. Der Kerl ist schon eingebildet genug, und das wird im Alter immer schlimmer.«
»Pass auf den jungen Griesgram auf«, sagte Kaedymia zu Ben und grinste Aiphyron an.
Sie verabschiedeten sich voneinander, und Aiphyron erhob sich in die Lüfte.
Bester Laune flogen sie in großer Höhe dahin. Während er Kaedymia geheilt hatte, hatte Ben nicht ein einziges Mal an mögliche Verfolger gedacht. Vielleicht weil er keine Zeit dafür gehabt hatte, vielleicht weil er sich im morastigen Delta verborgen, fern aller Handelswege, vor dem Orden sicher
gefühlt hatte. Doch in Chybhia würde es wieder anders werden, die Stadt musste er ohne Aiphyron betreten, also vollkommen allein. Daran hätte er denken sollen, bevor er Yanko und Nica verlassen hatte.
Das hätte nichts gebracht, erinnerte er sich, bevor er seine Entscheidung richtig bedauern konnte, sie hätten ihn sowieso nicht begleitet, sie wollten ja unbedingt diesen Ketzer jagen. Dabei waren Drachen viel wichtiger, das hatte er eben erst wieder gespürt. Nichts war diesem Gefühl vergleichbar, wenn die Heilkräfte kribbelnd durch seine Hände flossen, wenn er spürte, wie sich ein Drache erholte. Nichts, mit Ausnahme von fliegen vielleicht.
Nein, ohne Yanko und Nica war er besser dran. In Falcenzca hatten sie ihn an seiner Hose erkannt, die Ritter in Vierzinnen hatten aufgrund ihrer Anzahl eine Verbindung zu diesem Steckbrief gezogen. Allein, ohne Haare, ohne seine auffällige Hose in einer weit entfernten Stadt, in der er niemanden kannte und niemand ihn, würde man ihn nicht erkennen. Zu den Spielen musste die Stadt nur so vor Fremden wimmeln, keiner achtete da auf einen einzelnen Jungen. Es war besser so,
Weitere Kostenlose Bücher