Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
noch einmal, und dann nur noch einmal ihren Namen. Sein Herz schlug laut.
Über ihm tollten die Drachen durch den nächtlichen Himmel.
DER SCHWUR
Z um Frühstück teilten sich Ben, Yanko und Nica einen kopfgroßen Sonnapfel, den die Drachen bei ihren nächtlichen Ausflügen irgendwo gepflückt hatten. Es war eine süße Frucht mit saftigen hellroten Fleisch, die ihren Namen von der leuchtend gelben Schale hatte, und davon, dass sie hoch oben in einem schlanken Baum wuchs, der in Bodennähe keine Äste trieb, sondern nur einen kleinen Wipfel mit kurzen glatten Zweigen, langen, saftig grünen Blättern und großen himmelblauen Blüten ausbildete. Es war der einzige fleischfressende Baum, von dem Ben je gehört hatte, er verschlang kleine, ahnungslose Vögel, die in seiner klebrigen Blüte landeten. Nur die fein gesäuberten Knochen blieben übrig, der Baum ließ sie fallen, und sie umlagerten den Stamm wie abgestorbene Ästchen. Aus diesen Knochen konnte man unfehlbar die Zukunft lesen, wenn man ihre Lage richtig zu deuten vermochte – das konnten jedoch nur die wenigsten. Ben hatte keinen solchen Sonnapfelbaum hier in der Nähe gesehen, die Drachen mussten weit geflogen sein.
»Wo habt ihr den her?«, fragte er.
»Gibt’s da noch mehr?«, fügte Yanko an. »Schmeckt ausgezeichnet.«
»So klein und so gefräßig«, grinste Aiphyron.
»Der Baum wächst ein ganzes Stück von hier entfernt, aber das war kein Problem, denn die neuen Flügel verrichten ihren Dienst wie die alten«, hob Juri an. »Der ganze nächtliche Rundflug erinnerte mich an einen kleinen Zwischenfall
vor ein paar Jahren – ich weiß nicht, ob ich davon schon erzählt habe -, als ich im Norden versehentlich fast auf einem schlafenden Troll gelandet wäre, der mich für einen fleischgewordenen Albtraum hielt, eine Wolke aus Stein, die vom Himmel fiel. Er musste seit Wochen dort gelegen haben, in seinem Ohr hatte sich Erde gesammelt, aus der bereits erste Blumen sprossen, zahlreiche Felsasseln hatten sich unter ihm eingenistet und stoben verschreckt über seinen Körper, als er sich plötzlich aufrichtete. Er stank aus dem Mund wie eine Abfallgrube und...«
»Es ist wundervoll, dass du wieder fliegen kannst«, unterbrach ihn Yanko, der in den letzten Wochen gelernt hatte, dass man Juri anders nur selten zum Schweigen brachte. Der einfache Hinweis, man habe die Geschichte schon gehört, drei- oder viermal sogar, den Anfang noch deutlich öfter, reichte nicht immer aus, nicht, wenn Juri reden wollte. »Und genau darüber habe ich gestern Nacht mit Nica gesprochen. Du darfst auf keinen Fall der letzte Drache gewesen sein, den wir aus den Händen der Ordensritter befreit haben. Nicht der letzte Drache, dem wir seine Flügel zurückgegeben haben.«
Die Drachen nickten. Diese stumme Form der Zustimmung hatten sie sich im Umgang mit Menschen angewöhnt.
»Wir?«, fragte Ben, dem Yanko eben mit flinken Fingern das letzte Stück Sonnapfel weggeschnappt hatte. »Wen meinst du mit wir, wenn du vom Flügelzurückgeben sprichst?«
»Na, uns alle. Wir gehören doch zusammen. Natürlich bist du derjenige, der sie heilt. Aber wir helfen dir, die Drachen zu entführen. Du kannst ihnen schließlich nicht im Stall des Ordens die Hände auflegen.«
»Jaja. Aber die Idee hatte ich lange vor euch«, brummte Ben. Es passte ihm nicht, dass Yanko und Nica ihre traute
Zweisamkeit dafür nutzten, seine Gabe zu verplanen. Es war seine Gabe – sollten sie doch eine eigene entwickeln, wenn sie große Pläne schmieden wollten, ohne ihn zu fragen. Selbstverständlich würden sie damit Drachen befreien, aber nicht, weil Yanko es wollte.
»Das ist doch völlig egal, wer die Idee zuerst hatte«, sagte Yanko. »Doch Juri kann wieder fliegen, er braucht deine Hilfe nicht mehr. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, den nächsten Drachen zu befreien. Wir zeigen’s dem verdammten Orden.«
»Und den Ketzern.« Nicas Züge waren wie versteinert. Ihr Vater war ein Ketzer gewesen und hatte in seinem religiösen Wahn versucht, sie einem gigantischen, erwachenden Drachen zu opfern, in dem er den König der Drachen gesehen hatte. Oft genug hatte Ben seine Mutter gehasst, weil sie ihn geschlagen hatte, und seinen Vater, weil er verschwunden war und ihn im Stich gelassen hatte, doch immerhin hatten sie nicht versucht, ihn umzubringen. Niemals hatten sie es als ihre heilige Pflicht angesehen, ihn zu opfern. Ben wusste nicht, wie viel Hass Nica deswegen fühlen mochte, sie redete nicht
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