Der Drachenthron: Roman (German Edition)
spazierte mit dem Nachttopf in Händen hinaus. In dem Durcheinander an unbekannten Gesichtern bedachte ihn niemand eines zweiten Blickes.
Im Gegensatz zum Turm der Lüfte war Jehals Unterkunft sehr bescheiden, wenn nicht gar die armseligste, die der Palast zu bieten hatte. Wenn es nach Hyram ginge, hätte er ihn wohl am liebsten in eine der heruntergekommenen Hütten außerhalb der Stadtmauern verbannt, dachte Jehal. Eine solch offene Beleidigung wagte der Sprecher zwar nicht, aber die Kränkung traf Jehal dennoch, weshalb er im Gegenzug mit großer Verspätung zu Zafirs Krönungsfeier erschien und laut polternd in die Glaskathedrale stürzte, mitten während Hyrams langweiliger Rede über die Würde, das Dienen und die Pflichten eines Königs. Eines Königs, nicht einer Königin. Jehal speicherte das im Gedächtnis ab, um Zafir das nächste Mal, sobald sie nackt in seinen Armen lag, ganz beiläufig darauf hinzuweisen.
Hyram schwadronierte weiter, und Jehal spielte lustlos an seinen Nägeln herum. Die Kathedrale wirkte riesig und leer. Eine Schar Drachenpriester huschte leise tuschelnd durch die Schatten des Gotteshauses. Einige Lords und Ladys aus Hyrams Gefolge saßen höflich in den Bankreihen, doch die einzige andere Person von Bedeutung war der Elixier-Meister, der artig das Geschehen dokumentierte: Bellepheros, Großmeister der Alchemisten und Erster Lord des Ordens der Drachenschuppen. Gähnend beobachtete ihn Jehal. Sie hätten das alles in zehn Minuten mit einer Flasche gutem Wein in Hyrams Arbeitszimmer über die Bühne bringen können. Oh, aber dann wäre es natürlich nicht mehr dasselbe gewesen! Bei der Vorstellung, während der Zeremonie gleichzeitig an Langeweile und Unterkühlung zu sterben, konnte Jehal dem Ereignis sogar noch einen gewissen Hauch von feierlichem Ernst abgewinnen. Er hätte einen Mantel mitbringen sollen, entschied er. Einen warmen, gefütterten Mantel. Und ein Kissen. Unter den gegebenen Umständen musste er sich wohl damit zufriedengeben, Hyram amüsiert zuzusehen, wie er sich zitternd und stotternd durch seine Rede kämpfte.
Schließlich kam Hyram zu einem Ende. Jehal schlüpfte ins Freie und wartete auf Zafir, bereits in Gedanken, wie er ihren ersten königlichen Befehl erfüllen könnte. Aber es war Sprecher Hyram, der als Erster die Kathedrale verließ und zielgerichtet auf Jehal zuschritt.
»S-Sehr freundlich, dass Ihr d-d-doch noch gek-k-kommen seid«, stotterte er. Jedes Körperteil an ihm schien zu zittern.
Jehal verbeugte sich so geringschätzig wie möglich. »Mir ist durchaus bewusst, dass Königin Zafir nur gekrönt werden konnte, wenn wenigstens eine andere Person mit königlichem Blut zugegen ist. Andernfalls wäre ich sicherlich nicht hier. Ist Euch etwa kalt, Eure Hoheit? Heute geht tatsächlich eine steife Brise. Ich könnte Euch einen Mantel bringen lassen, wenn Ihr wünscht.«
»G-Glaubt nicht, Ihr könntet mich zum Narren halten, Prinz J-Jehal«, zischte Hyram.
Jehal lächelte und tippte sich an die Stirn. »Natürlich, Hoheit. Ich habe vergessen. Eure Krankheit. Sie scheint immer weiter fortzuschreiten. Ein schrecklicher Verlust für das Reich. All das Wissen. Wer von den Drachenkönigen könnte Euren Platz auch nur annähernd würdig einnehmen?«
»Und w-wie geht es Eurem Vater, Jehal?« Das unaufhörliche Zittern machte Hyram zu einem gebrochenen alten Mann, doch es lag immer noch Feuer in seinen Augen.
Jehal biss sich auf die Lippe. Vorsicht, Vorsicht. Er ist kein Dummkopf. Noch nicht. Er versuchte, einen traurigen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Sein Verstand ist meines Erachtens so scharf wie eh und je. Obwohl es tatsächlich schwer zu sagen ist. Meistens hat ihn seine Lähmung fest im Griff. Wenn das Zittern einsetzt und er den Mund öffnen kann, versteht leider niemand, was er uns zu sagen versucht. Es gleicht einem Wunder, dass wir ihn immer noch füttern können. Seine Krankheit …«
»Krankheit?« Hyram schnaubte. »Jeder w-w-weiß längst, dass Ihr ihn v-vergiftet.«
Jehal biss die Zähne aufeinander. »Dann muss ich Euch wohl ebenfalls vergiften, Eure Hoheit, denn Eure Symptome sind dieselben, die er zu Beginn hatte. Ja, es fällt schwer, sich an die Zeit zu erinnern, als er noch reden, eigenständig essen, sich mit Frauen vergnügen und alles tun konnte, wozu der Vater eines Drachenprinzen imstande sein sollte, aber ich würde sagen, Eure Symptome sind genau dieselben.« Er spuckte aus und drehte sich um. »Vermutlich wäre es sogar
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