Der Drachenthron: Roman (German Edition)
noch da, gefesselt, reglos. Seine Arme fühlten sich an, als würden sie brennen.
»Hallo? Du da?«
Sie antwortete nicht, doch er sah, wie sie sich bewegte, wenn auch kaum merklich.
»Du da! Du da!«
Nach einer Weile gab er es auf. Er verzog das Gesicht und stählte sich gegen den Schmerz in seinen Schultern, um sich dann einzureden, er befände sich an einem ganz anderen Ort. Vielleicht tat die Frau genau dasselbe und beachtete ihn deshalb nicht. Eine große Hilfe hätten sie einander sowieso nicht sein können. Kailin blieb nichts weiter übrig, als auf Schneeflockes Rückkehr zu warten.
Als sie endlich kam, war er derart mit seinem eigenen Elend beschäftigt, dass er sie erst bemerkte, nachdem sie gelandet war und die Schreie der Frau sein leises Wimmern übertönten.
Mein Kleiner Kailin! Sie hastete den Fluss hinab, rannte aufgeregt auf ihren Hinterläufen, schlug mit den Flügeln, um schneller voranzukommen, und hielt genau auf den Knappen zu. Mit ihren ausgebreiteten Schwingen nahm Schneeflocke fast die gesamte Breite des Flusses ein, ungefähr dreißig Meter.
Die Frau schrie immer lauter und hysterischer, bis sie in ein schrilles, markerschütterndes Wehklagen verfiel.
Du bist verletzt!
»Hol mich vom Baum runter!«, rief Kailin.
Wie ist das geschehen? Schneeflocke kam schlitternd zum Stehen und schüttelte die Flügel aus, wobei Steine von der Größe von Kailins Kopf durch die Luft flogen. Ihr Kopf schoss nach vorne. Ihre Zähne schlossen sich um den Ast über Kailin. Sie biss das Holz durch, als handelte es sich um Watte, und setzte Kailin behutsam auf der Erde ab. Kailin presste die Arme an die Brust. Ein himmlisches Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn.
Ich kann dich nicht losbinden . Schneeflocke blickte Kailin forschend an und beschnupperte dann die Frau. Woher kommt dieses Kleine? Warum ist es gefesselt? Ist es Nahrung?
Das Wehklagen der Frau verwandelte sich in leises Schluchzen.
»Schneeflocke, lass sie in Ruhe. Tu ihr nicht weh! Sie hat schreckliche Angst.«
Ich weiß. Es fühlt sich gut an. Genau wie in meinen Erinnerungen.
»Sprich zu ihr!« Kailin rappelte sich mühsam auf die Beine und ging langsam zurück zu den Bäumen. »Gib ihr zu verstehen, dass du ihr nicht wehtun wirst.«
Du hast große Schmerzen, Kleiner Kailin. Das spüre ich. Ich kann dir aber nicht helfen. Warum hast du das getan?
Er konnte die Verwirrung in Schneeflockes Gedanken erspüren. Der Drache konnte sich keinen Reim auf die Sache machen.
»Andere Männer haben uns das angetan. Böse Männer, Schneeflocke. Ich weiß nicht, warum sie es getan haben.« Er sah die Frau mit schräg gelegtem Kopf an. »Sie weiß es vielleicht.« Er verzog das Gesicht und schlich vorsichtig zwischen den Steinen umher, bis er einen fand, der scharf genug war, sodass er das Seil an seinen Handgelenken durchtrennen konnte. Es war eine langwierige Arbeit, doch zu guter Letzt, als es endlich geschafft war, schrie die Frau nicht mehr, sondern starrte Schneeflocke mit fassungslosem Entsetzen an. Kailin ging zu ihr und bearbeitete ihre Knoten. Sobald sie befreit war, sackte er vor einem Felsblock zusammen. Die Frau umschlang ihre Knie. Sie zitterte am ganzen Leib. Er wollte ihr seinen Flugpelz geben, doch als er sich ihr näherte, wich sie erschrocken zurück. Er legte den Mantel neben die Frau auf den Boden und trat beiseite. Ihr Rücken war blutverkrustet.
»Ich bin Kailin«, sagte er. »Das ist Schneeflocke. Sie ist mein Drache.«
Die Frau sah ihn an, als wäre er verrückt. Sie schien beinahe genauso viel Angst vor ihm zu haben wie vor dem Drachen.
Ihr Name ist Nadira. Sie fürchtet sich vor dir. Sie glaubt, du wirst ihr wehtun. Sie sieht dich in einer Rüstung, mit einem Schwert und einer Lanze, so wie sich die meisten Männer kleiden, die einen Drachen reiten. Und sie denkt, dass mit dir etwas nicht stimmt.
Kailin setzte sich auf einen Stein und betrachtete die Frau eingehend. »Ich bin kein Reiter. Ich bin nur ein Knappe. Weißt du, was das ist? Ich kümmere mich um Drachen. Ich füttere und striegle sie. Wie ein Stalljunge. Mein Äußeres habe ich ihr zu verdanken. Wenn ein Drache aus seinem Ei schlüpft, trägt er eine Krankheit in sich. Und die hat sie auf mich übertragen. Selbst die Elixiere der Alchemisten können nichts dagegen tun. Hab keine Angst. Das ist vor langer Zeit geschehen. Die Krankheit schlummert in mir und wird erst wieder ausbrechen, wenn mir das nächste Ei zur Pflege übergeben wird. Ich darf
Weitere Kostenlose Bücher