Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
eine Wollmütze, die schon von weitem »Einbrecher« schrie und seine Nase so richtig zur Geltung brachte. Er stand auf und sagte: »Ich hab dich angepiepst, aber du hast dich nicht gemeldet.«
»Ich war nicht in der Klinik.«
»Ich bin sicher, Sie wissen noch, wer ich bin«, sagte Leo.
»Der Pfleger«, sagte Ray. »Natürlich. Wie geht’s?«
Ich deutete auf die Aschespur auf der Granitstufe hinter ihm und fragte ihn, ob er geraucht habe.
»Das erste Mal seit zehn Jahren. Und das führe ich auf die äußerst beunruhigende Nachricht zurück, die ich vor einer Stunde erhalten habe.« Er blickte Leo sekundenlang unverwandt an und fügte dann hinzu: »Es ist was Persönliches. Ich hatte gehofft, mit Alice allein sprechen zu können.«
»Mit Leo kann man sehr gut sprechen«, behauptete ich. »Viel besser als mit mir.«
»Hoffentlich ist niemand gestorben«, meinte Leo.
»Nichts Derartiges«, sagte Ray. »Es ist eher eine emotionale Krise - Sachen, die ans Licht gekommen sind. Und ich habe noch nichts gegessen, da dachte ich mir, vielleicht könnte Alice mir Gesellschaft leisten, während ich mir eine große Portion Nachos und ein Bier zu Gemüte führe.«
Leo sah mich prüfend an. Ich nickte meine Zustimmung, und er trottete ins Haus.
An der Bar saßen scharenweise gut gekleidete Leute, hauptsächlich Geschäftsmänner und -frauen. Viele tranken Martini. Viele lachten dieses spröde, automatische Lachen, das als Ersatz für sinnvolle Gespräche herhalten muss. »Geradeaus.« Ray dirigierte mich von hinten. Die Hände hatte er mir auf die Schultern gelegt, und er schunkelte, als hätte ich meine Bereitschaft zu einer Polonaise signalisiert. »Der Speisesaal ist da hinten.«
Als wir uns an einen kleinen, abgelegenen Tisch gesetzt hatten, und unsere mürrische Kellnerin gegangen war, meinte Ray: »Keine Ahnung vom Umgang mit Menschen. Null. Was hätte es sie gekostet zu lächeln? Und warum Sibirien? Hier gibt’s ein Dutzend bessere Tische.«
»Mach kein Theater. Hier ist es ruhig, und wir können reden. Aber vorher bestellen wir noch.«
Plötzlich war Ray nicht mehr bei der Sache und grinste, als hätte er soeben eine neue soziologische Einsicht gewonnen. Er deutete mit dem Kopf in Richtung eines schick aussehenden Zweiergespanns, das sich über die Speisekarten hinweg zögerlich zulächelte. »Wetten, dass die sich gerade erst an der Bar kennen gelernt haben? Er hat ihr einen Drink spendiert, sie haben beschlossen, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, und dann hat einer von beiden gesagt: ›Wollen wir was essen?‹«
»Das weißt du allein vom Hinsehen?«
»So schwierig ist das auch wieder nicht, mit Verlaub.«
»Woher weißt du, dass das kein Ehepaar ist. Oder Geschwister oder Arbeitskollegen, die sich ein Abendessen leisten, das sie von der Steuer absetzen können?«
Er beugte sich zu mir und fragte: »Doc, warst du schon einmal in einer Bar?«
»Natürlich.«
»Ist da mal jemand zu dir gekommen und hat dich gefragt, ob du etwas trinken möchtest?«
»Außer einem Kellner?«
Ray tätschelte mir die Hand. »Ich meine, hat schon mal jemand mit dir geflirtet? Dich zum Tanzen aufgefordert? Dich gefragt, ob du irgendwohin gehen willst, wo’s ruhiger ist und man sich unterhalten kann?«
Mir war klar, wohin dieses Verhör führen würde: von nicht allzu persönlichen Erkundigungen zum intimen Fragebogen - wenn ja, wann, mit wem, wie war’s und, das Allerschlimmste, wie hast du dich dabei gefühlt?
Statt zu antworten, öffnete ich meine Karte. Als ich schließlich wieder hochsah und in dieselbe Kreuzverhörmiene blickte, versuchte ich es anders: »Was waren das für schlechte Nachrichten? Können wir vielleicht die stattdessen erörtern?«
Er trank einen Schluck Wasser, schluckte und biss sich auf die Unterlippe. »Sag, wenn es dir zu viel wird. Meine Frau, Mary, hatte einen Freund.«
»Wann?«
»Als wir heirateten! Die ganze Zeit über, um genau zu sein. Irgendein Arbeitskollege.«
»Ich habe dich nie nach ihrem Beruf gefragt.«
»Sie war stellvertretende Filialleiterin in einem dieser Druckläden von FedEx. Aber darum geht’s jetzt gar nicht. Sondern darum, dass ich am Boden zerstört bin.«
Ich fragte ihn, wie er davon erfahren hatte.
»Von meiner früherer Schwägerin Bernadette.«
»Das kommt mir aber spanisch vor. Warum sollte eine Frau das Andenken ihrer toten Schwester trüben wollen? Insbesondere, nachdem alles schon vorbei ist?«
»Weil es ihr in all den Jahren keine Ruhe
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