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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elinor Lipman
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fragte Michael.
    »Eine Schwester. Sie lebt in Seattle.«
    »Ist sie verheiratet?«, wollte Mrs. Morrisey wissen.
    »Noch nicht.«
    »Können wir wieder zu dem Thema zurückkehren, das wir hatten, bevor Michael sein Schandmaul gewaschen kriegte?«, fragte Leo.
    Marie - eindeutig der Streitschlichter und Diplomat der Familie - wandte sich an mich. »Ich glaube, wir haben darüber gesprochen, wie viel Einsatz dir deine Arbeit abverlangt, und ich fragte, ob sie ihn wert sei? Die viele Arbeit, die schlaflosen Nächte und - das hast du selbst gesagt - die Panik . Ist der Berufstraum, der sich vielleicht nie erfüllt, das alles wert?«
    Da passierte mir etwas völlig Unvorhergesehenes: Mir war zum Heulen. Ich kaschierte das Zittern meiner Lippen mit zwei langen Schlucken aus meinem Milchglas und heftigem Augenzwinkern, als wäre das Problem ophthalmologischer Natur.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Leo.
    »Ich wollte nicht -«, setzte Marie an.
    »Ich muss gerade an meine Großmutter gedacht haben«, sagte ich.
    »Natürlich«, sagte ihre Mutter. »Aber sie ist jetzt bei Jesus und frei von allen Schmerzen, Gott schenke ihr die ewige Ruhe.«
    Doch ich wollte mich als gewandte Gesprächspartnerin profilieren, die man gern mal wieder einlud. »Und wie ist das mit dem Fegefeuer? Ich meine, nach Ihren Richtlinien für ein Leben nach dem Tod, wäre sie nicht noch dort?«
    Die versammelten Frawleys setzten ihre jeweiligen Milchgläser an oder durchsuchten ihre Kartoffelschalen nach vergessenen Resten.
    »Alice braucht ein freies Wochenende«, sagte Leo.

9
    MARY RUSSO, GEB. CICCARELLI
    Ich weiß schon, es gibt Leute, die können das einfach: ihre Fehler analysieren und der schweigsamen Person auf dem Nebensitz richtungweisende Fragen stellen, wie »Habe ich etwas falsch gemacht?« oder »Bist du jetzt sauer?«. Aber ich verfügte weder über das geeignete Vokabular noch über die notwendige Neigung. Während die Straßenbahn den Drehungen und Wendungen der Commonwealth Avenue folgte, saß Leo mit geschlossenen Augen neben mir. Dann hörte ich ihn sagen: »Ich spiel jetzt nur mal den Advocatus Diaboli …«
    »Für?«
    »Für deine Arbeit. Ob du tatsächlich kein Talent für Chirurgie hast, oder ob es an deinen früheren Supernoten liegt.«
    Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle und woher er über meine Noten Bescheid wisse?
    »Ich vermute, dass du zu den Leuten gehörst, die nicht genug darüber jammern können, wie schlecht es ihnen in der Klausur über organische Chemie gegangen ist, bis sie sie mit einer dicken, fetten Eins plus zurückkriegen, weil sie alles richtig haben, inklusive der Zusatzfrage.«
    Völlig unaufgeregt antwortete ich: »Ich bin die schlechteste Ärztin im Praktikum, die sie je hatten, seit dem legendären Versager, dem sie den Vertrag nicht verlängert haben, obwohl er mit der Nichte des Krankenhausdirektors verlobt war.«
    »Du musst ja nicht darauf warten, dass sie dir den Vertrag nicht verlängern. Du kannst selbst eine Entscheidung treffen.«
    Ich sagte, das verstünde ich nicht.
    Leo hustete in seine fäustlingbewehrte Hand. »Hast du nie daran gedacht, von dir aus zu gehen?«
    Ich dachte: I wo! Bloß zehnmal pro Stunde und bei jedem vernichtenden Blick und jeder wahrheitsgemäßen Beurteilung! - und sagte: »Eigentlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Ziele für so etwas Triviales wie berufliche Erniedrigung aufzugeben. Wenn ich über meine Unzulänglichkeiten nachzudenken beginne, dann sage ich mir: ›Du hast als Zweitbeste in deinem Jahrgang abgeschlossen. Wieso bist du jetzt so schlecht? Wenn du dich mehr anstrengst, wirst du besser.‹«
    »Und woher kommt es dann, dass du dich ständig wie eine Versagerin fühlst?«
    »Ich kann mich steigern. Das Jahr hat gerade erst angefangen. Schon morgen könnte alles ins rechte Lot kommen.«
    »Man kann auch das Fachgebiet wechseln. Chirurgen satteln auf Anästhesiologie um. Internisten auf Allergologie. Du hast deinen Abschluss gemacht. Den nimmt dir keiner mehr weg.«
    »Nein«, sagte ich. »Kneifen kommt für mich nicht in Frage.«
    »Ich stelle ja nur Hypothesen auf. Ich denke nur an dich und daran, was dich fröhlicher machen könnte.«
    »Kurzfristig«, fuhr ich ihn an.
    »Nein«, sagte Leo, »langfristig.«
    »Kneifen kommt für mich nicht in Frage«, wiederholte ich.
    Ray wartete auf der Treppe vor dem Hauseingang. Er rauchte, machte die Zigarette bei meinem Erscheinen aber sofort aus. Er trug eine glänzende schwarze Daunenjacke und

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