Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
schlafen. Ray wäre angenehm überrascht. »Meinst du das ernst?«, würde er fragen, Dankbarkeit im Blick, die Stimme brüchig vor unterdrückter Erregung und mühsam gebändigtem Testosteron.
Vielleicht würde das ein wenig Farbe in meine Wangen bringen. Vielleicht würde es mir sogar gefallen.
Gehen wir zu dir oder zu mir?, konnte ich ihn fragen. Ich sah in den Spiegel, tupfte mir die Oberlippe mit einem braunen Papiertuch ab und flüsterte mit aller mir zu Gebote stehenden Lüsternheit: »Zu dir oder zu mir?«
Ich knapste mir eine Minute von meiner ohnehin nicht vorhandenen Zeit ab und rief die Wohnungsvermittlungsstelle an. Der junge Mann am anderen Ende der Leitung zeigte sich schwer beeindruckt von meinem Timing. Ein Mieter sei auf ganz unglückliche Weise ums Leben gekommen und eben erst , äh, heute Morgen, gefunden worden! Die polizeilichen Ermittlungen wären bis Ende der Woche abgeschlossen, Maximum! Es handle sich um ein Apartment mit kleinem Balkon und Schrankbett, beziehbar, sobald der Teppichboden professionell gereinigt und desinfiziert worden sei.
Ich fragte, ob ich warten könne, bis der Polizeibericht vorläge, und ob der Mieter das Opfer von Milzbrand, Legionärskrankheit oder Mord geworden sei, in den einer der Nachbarn verwickelt war.
Der junge Mann senkte die Stimme. »Ganz im Vertrauen?«
»Ja, bitte.«
»Schlaftabletten. Kein Grund zur Aufregung.«
»War er Chirurg im Praktikum?«
»Anästhesist. Aber es waren persönliche Gründe - eine schlimme Trennung. Er hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
Ich sagte, das täte mir Leid. Ich würde die Wohnung nehmen. Ich nannte meinen Namen, gab ihm meine Piepser-Nummer und das feierliche Versprechen, ihm spätestens um fünf einen Scheck auf den Schreibtisch zu legen.
In der halben Stunde, in der Leo vorzugsweise Mittagspause machte, ging ich in die Kantine. Mit ihm zusammen aß eine Frau, eine Hebamme - erkennbar an der professionell gelassenen Miene und den Naturfasern. Um ihren Hals, unter dem langen braunen Haar, trug sie sowohl ein Stethoskop als auch eine Kette aus etwas, das aussah wie mit Schellack überzogene Samen. Älter, dachte ich. Fünfunddreißig, vierzig. Das passte zu Leo, dem Aufgeschlossenen, dem Freund der gesamten Menschheit.
»Was ist denn nun?«, fragte er vor Erregung fiebernd. »Wieso haben die mich eigentlich nicht in die Mangel genommen? Du hast doch mit Kennick gesprochen, oder? Alles in Ordnung?«
»Wie du siehst, bin ich noch da.« Ich reichte Meredith die Hand. »Ich bin Alice. Die Hausgenossin.«
»Leo hat mir von Ihren Irrungen und Wirrungen erzählt. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass er mich ins Vertrauen gezogen hat.«
»Ich habe Bewährung bekommen. Die nächsten zwei Monate stehe ich unter strengster Beobachtung.« Ich hob die Hand, um Leos Antwort abzuwehren, die sicher wieder eine Aufforderung zum Handeln war. »Ich habe aber auch gute Nachrichten.«
Leo, der ewige Optimist, grinste. »Hastings hat’s zerrissen.«
»Nein, nicht zu diesem Thema -«
»Zum Glück arbeitet Hastings nicht auf der Gynäkologie, da haben wir nichts miteinander zu tun«, teilte Meredith mir mit.
Ich nickte kurz und wandte mich wieder an Leo. »Du weißt doch, dass ich bei der Wohnungsvermittlung auf der Warteliste stand?«
Er sagte, hä, nein, davon wisse er nichts.
»Na, egal, völlig überraschend ist heute ein Apartment frei geworden. Und jetzt, wo ich auf Bewährung bin, ist das ja praktisch unumgänglich. Zur Klinik muss ich dann nur noch durch den Tunnel.«
»Aber du wohnst doch jetzt auch nur auf der anderen Straßenseite«, merkte Leo an.
Da ich hinter Meredith stand, reichte eine minimale Kinnbewegung, um damit zum Ausdruck zu bringen: Jetzt seid ihr ungestört.
»Ist das schon fix? Hast du unterschrieben?«
»Ja.«
»Welches Gebäude?«, fragte Meredith. »Nord oder Süd?«
»Nord«, sagte ich auf gut Glück.
»Ich hab gehört, die sind ganz nett.«
»Sind sie nicht!«, widersprach Leo. »Da drüben wimmelt’s nur so von Ehepaaren und Babys, und alle Nase lang gibt’s eine Feuerwehrübung.«
»Du magst doch Babys, Schatz«, murmelte Meredith.
Ich sagte, ich müsse dringend Laborberichte für meinen Vorgesetzten abholen.
»Das kommt aber sehr plötzlich«, meinte Leo.
»Das liegt in der Natur einer Warteliste. Es ergibt sich was, du nimmst es sofort oder du kannst es vergessen.«
»Ihr seht euch ja noch hier«, vermittelte Meredith. »Wahrscheinlich genauso oft, wie in der
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