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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elinor Lipman
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kann’s nicht fassen, dass du dich so echauffierst, weil eine Frau bei uns übernachtet -«
    »Ich habe heute Abend Bereitschaft«, sagte ich kühl, schon halb im Gehen. »Und morgen Abend - kann sein, dass ich da bin. Oder auch nicht.«
    »Alice -«, versuchte er es noch einmal. Er griff nach meiner Hand, aber ich riss mich los und marschierte davon.

14
    ICH BIN VÖLLIG NORMAL
    Angesichts der Umwälzungen in Beruf und Logis hielt ich mich mit einschneidenden Modifikationen meines Sozialverhaltens entsprechend zurück. Ich erstand eine Grußkarte, eine Schwarzweißfotografie des Schiefen Turms von Pisa, auf die ich Folgendes schrieb: Hi! Am 1. Februar ziehe ich in meine eigene Wohnung, ein außergewöhnlich sauberes Apartment fürs Krankenhauspersonal. Rufe an, sobald ich ein Telefon habe. Oder du piepst mich an. Gruß, Doc. Ich schickte sie an Rays Firmenadresse und schrieb Persönlich auf den Umschlag. Seit dem Abend, an dem ich mich selbst aus dem Lokal am Fenway Park gepiepst hatte, hatte ich nichts mehr von Ray gehört, und sogar ich, die ich unempfänglich war für versteckte Botschaften, war mir im Klaren, dass zwischen den Zeilen meines unbekümmerten Grußes eine kühne Einladung zu lesen war.
    Er antwortete nicht. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was ich ihm eigentlich geschrieben hatte, und welchem außerordentlichen Zug seines Charakters er es wohl zu verdanken hatte, dass ich unsere Freundschaft wieder aufleben lassen wollte. Da war seine Bereitschaft, meine Gesellschaft zu ertragen. Und sonst? Er war weder intelligent noch attraktiv. Interessant war er auch nicht. Höchstens als Studienobjekt für Soziologiestudenten im ersten Semester, die sich, mit Kassettenrekorder und Trillerpfeife bewaffnet, in eine verrufene Wohngegend wagten, um ihn zu interviewen. Auf der Habenseite konnte man vielleicht unterhaltsam , kontaktfreudig und teilt sein Essen verbuchen. Wäre ich jemand, der zu Vereinfachungen und Romantik neigt, hätte ich vielleicht gesagt, Gegensätze ziehen sich an, aber diese Erklärung schien mir dann doch zu unwissenschaftlich, zu kindisch, als dass ich mir erlauben konnte, mich länger damit zu befassen.
     
    Während meine Mutter jedes einzelne Teil meiner Unterwäsche dreifach faltete und in meinen Koffer packte, fragte sie ganz nebenbei: »Ist dir im Laufe deiner medizinischen Exkursionen jemals das Asperger-Syndrom untergekommen?«
    »Das ist was Neurologisches. Eine Form von Autismus, glaube ich.«
    »Auch das ›Zerstreuter-Professor‹-Syndrom genannt.« Missbilligend betrachtete sie den gefährlich indisponierten Gummizug in einem fadenscheinigen Baumwollunterhöschen und beförderte es in hohem Bogen in meinen Papierkorb. »Die, die davon betroffen sind, haben einen sehr hohen IQ - astronomisch hoch -, aber ihre Sozialkompetenz ist gleich null. Dein Vater hat den Artikel auch gelesen, und wir reden ständig darüber. Er hat sich im Internet auf die Suche begeben und eine Yale-Studie gefunden.« Sie kam zur Schranktür und forderte mich auf, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie legte mir die Hände auf die Schultern und bedeutete mir damit: Pass auf. Kopf in die Höhe. Schau mir in die Augen. »Wie geht es dir heute, Alice?«, sagte sie laut und deutlich wie in einem Konversationskurs für Anfänger.
    Ich zuckte die Achseln. »Müde bin ich. Deprimiert.«
    »Gut«, sagte sie. »Da geht’s mir gleich besser.« Sie holte ihren gewebten Bücherbeutel und zog einen Packen Papier heraus. Es waren schlechte Kopien, zusammengeheftet und stellenweise mit rosa Textmarker angestrichen. »Das war die Titelgeschichte im Magazin der letzten Sonntagszeitung … ich zitiere jetzt wörtlich: ›Wenn man sie fragt: Wie geht es dir?, antworten sie vielleicht: Warum willst du das wissen? Sie verstehen einfach nicht, wie sozialer Austausch funktioniert.‹«
    »Redest du eigentlich von mir? Hältst du mich für autistisch?«
    Sie hob den Zeigefinger. »Warte, ich hab’s mir angestrichen … Da hab ich’s: ›Kinder mit Asperger sind nicht in der Lage, die einfachsten visuellen sozialen Signale zu deuten. Das führt dazu, dass ihre Mitmenschen sie für emotional gestört halten. Oder für genial.‹«
    Ich nahm ihr die Zettel aus der Hand und überflog die ersten Absätze.
    »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«, fragte sie, dicht neben mir stehend.
    Ich las stumm, bis ich zu der Stelle kam: »… eine neurologische Störung, von der hauptsächlich Jungen betroffen sind«. Auf die wies ich sie hin,

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