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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elinor Lipman
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als ob damit die Angelegenheit erledigt wäre, dann fragte ich sie: »Wenn ich tatsächlich autistisch wäre, meinst du nicht, irgendjemand hätte das mittlerweile diagnostiziert?«
    »Diese Art von Autismus nicht! Die wurde erst 1994 offiziell als Störung eingestuft.«
    »Und glaubst du, dass viele autistische Kinder ihr Grundstudium summa cum laude abschließen und dann in Harvard weiterstudieren dürfen?«
    Sie runzelte die Stirn. »Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber bei dir könnte es ja weniger ausgeprägt sein. Es könnte sein, dass du einiges kompensiert hast, weil dein Vater und ich so extrovertiert sind und du dadurch gewisse Überlebensstrategien entwickelt hast.«
    Hatte ich wirklich gewisse Überlebensstrategien entwickelt? Ich legte mich auf mein Bett, auf dem nur mehr die nackte Matratze lag, und drehte mich mit dem Gesicht zur Wand.
    »Es gibt noch viel schlimmere neurologische Störungen«, versuchte meine Mutter mich wieder aus meinem Schneckenhaus zu locken. »Du hättest mit zerebraler Kinderlähmung zur Welt kommen können oder mit Epilepsie oder mit dem Tourette-Syndrom. Asperger ist ein Spaziergang im Vergleich zu -«
    »Ich habe kein Asperger! Und du bist auch nicht qualifiziert, irgendwelche Diagnosen zu stellen. Erstens kriegen das hauptsächlich Jungen. Zweitens bin ich vielleicht eine mitunter recht komplexe Persönlichkeit, aber sonst vollkommen normal. Und drittens, wie würdest du dich fühlen, wenn dir deine Mutter offenbart, dass sie dich für autistisch hält?«
    » Fühlen ? Gefühle sind genau das, wonach ich suche. Die sind knapp geworden in dieser Familie, seit Nana gestorben ist. Ich möchte, dass es zwischen dir und mir das gibt, was Nana und ich zweiundsechzig Jahre lang gehegt und gepflegt haben, nämlich eine intensive, einzigartige Freundschaft.«
    Sie nahm die Kopie wieder zur Hand und schlug eine weitere markierte Passage auf. »›Man denke an Glenn Gould«, las sie vor, »den exzentrischen kanadischen Pianisten, der 1982 starb und sich mit einunddreißig Jahren vom Konzertgeschehen zurückzog. Er war berühmt für sein exzentrisches Benehmen. Er hatte eine Phobie, Hände zu schütteln, aß nur Rührei und Pfeilwurzkekse und schaukelte am Klavier ständig hin und her.‹« Sie warf das Papier auf meinen Nachttisch. »Das finde ich sehr beruhigend, weil ich weiß, dass du keine Phobie hast, Menschen zu berühren. Du musst sie nämlich nicht nur berühren, sondern in sie hineinschneiden und ihre Organe und Drüsen betasten. Richtig?«
    »Richtig.«
    »Aber sag mir - ist auch das Gegenteil richtig?«
    »Das Gegenteil wovon?«
    »Das Gegenteil einer Handschüttel-Phobie. Anders ausgedrückt: Magst du es, wenn man dich berührt?«
    Mochte ich es? Ich wollte mich gerade mit dieser Frage auseinander setzen, da funkte sie schon wieder dazwischen: »Sag, wenn ich zu persönlich werde, aber ich hatte in der letzten Zeit reichlich Muße, darüber nachzudenken, was sich in Alice Thrifts Kopf abspielt. Ich meine, beschäftigst du dich eigentlich mit Körperlichem? Sehnst du dich danach? Greifst du mit beiden Händen zu, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet?«
    »Das sind drei verschiedene Fragen.«
    »Und denk nur, wie lange ich gebraucht habe, auch nur eine davon zu stellen! Nana wusste besser Bescheid, was in meinem Kopf vorging, als ich. Sogar als ich zu Hause ausgezogen war, wusste sie, wohin ich mit wem ging, wann ich meine Tage hatte und was ich zum Abendessen kochte. Ich konnte ihr alles erzählen, und nichts konnte sie abstoßen. Sie interessierte sich noch für das winzigste persönliche Detail. Ihr EQ schlug alle Rekorde.«
    Vielleicht, wenn es um ihre Tochter ging, in ihrem Kokon für zwei. Ich wies sie nicht darauf hin, dass Nanas so genannter EQ im Angesicht ihrer Enkelinnen zu einem Nichts zusammenschrumpfte. Wenn meine Eltern keinen Babysitter auftreiben konnten, wurden Julie und ich bei ihr abgesetzt, und es war selbstverständlich, dass wir unser Essen selbst mitbrachten und anschließend Kontraktbridge-Lektionen erhielten, bei denen wir unser Blatt wie beim Solitär auf ihren Kartentisch legen mussten.
    »Ich bin nicht der Meinung, dass Mutter und Tochter über persönliche Dinge sprechen sollten, denn früher oder später erfährt die Tochter unweigerlich etwas, das sie lieber nicht gewusst hätte.«
    Sie lächelte verschämt und setzte sich auf die Bettkante. »Als ich deinen Vater kennen lernte -«
    Ich hielt mir die Ohren zu. Sie zog mir die Hände weg

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