Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
aussehenden Internisten, den du in der Menge gesehen hast.«
Vor meinem inneren Auge erschienen nur rundschultrige, kurzsichtige Junginternisten, die aber trotzdem verheiratet waren. »Na, du weißt ja, dass ich schon immer davon geträumt habe, rekonstruktive Chirurgie bei Patienten in der Dritten Welt zu machen.«
»Ich weiß«, bestätigte sie. »Aber warum?«
»Warum? Weil die Entstellten in vielen Kulturen einfach ausgeschlossen werden. Stell dir mal vor, es läge in deiner Macht, einen Menschen wieder in die menschliche Gesellschaft zurückzuführen, ihn vor Einsamkeit, wenn nicht gar totaler Isolation und Tod zu bewahren -«
»Und das bedeutet dir viel - Angehörige primitiver Völker vor Einsamkeit zu bewahren? Bist du dir sicher, dass du das auch kannst?«
»Ich würde es lernen. Ich habe noch zehn Jahre Ausbildung vor mir, bevor ich auch nur -«
»Ich meine nicht, was das Chirurgische betrifft. Ich meine von der Psyche her. Glaubst du denn, du hast das Zeug zum Philanthropen?«
»Du hast nach meinen Träumen gefragt, und ich habe sie dir erzählt. Ist das so schwer zu verstehen? Eine Frau kommt mit einer Hasenscharte zu mir und verlässt die Klinik mit einem perfekt geformten Amorbogen.«
»Du hast völlig Recht.« Sie lächelte. »Was möchtest du mir sonst noch anvertrauen? Etwas, das nicht gar so weit weg liegt? Etwas, das mehr mit dir zu tun hat?«
Ich schloss die Augen und sagte: »Nein, danke.«
»Tut mir Leid. Ich bitte um Entschuldigung. Ich weiß doch, wenn man es aus Büchern lernen kann, dann wirst du das lernen, worüber mache ich mir eigentlich Gedanken?«
»Na, dann hör mal zu. Darüber kannst du dir Gedanken machen: Diese Woche habe ich bei einer Gallenblasenoperation beinahe einen Patienten umgebracht. Das ist doch mal ein schönes pikantes Geheimnis, oder?« Den Rest der Geschichte verkürzte ich: die Erschöpfung, den Bauchdeckenhalter, die verletzte Leberarterie, die Feindseligkeiten, das Urteil.
»Furchtbar«, murmelte sie. »Du musst dich ja zu Tode geängstigt haben. Aber zum Glück ist ja niemand gestorben … und jetzt mit Argusaugen beobachtet zu werden, wie erniedrigend.« Sie wartete einen Herzschlag lang, dann tupfte sie mich am Unterarm an, um ein neues Thema anzukündigen. »Wie steht’s mit deinem Liebesleben? Das war eigentlich mehr das, worauf ich hinauswollte.«
»Du weißt, dass ich eine 120-Stunden-Woche habe -«
»Ich weiß , dass es einen ganz besonderen Mann braucht, der das versteht und akzeptiert. Wahrscheinlich einen anderen Arzt, meinst du nicht? Deshalb gefällt mir die Idee von der Personalwohnung so gut.«
»Ich arbeite Tag und Nacht mit Ärzten zusammen. Ich muss wirklich nicht zu einer Tanzveranstaltung im Gemeinschaftsraum gehen, um einen kennen zu lernen.«
»Tanzveranstaltung? Wirklich? Gibt es so was bei euch tatsächlich?«
»Nein. Und wenn, glaubst du, ich ginge da hin?«
Ihr rechter Arm legte sich über ihr Gesicht und bedeckte die Augen.
Nach einer Minute versuchte ich es mit »Mom? … Joyce?«
Sie antwortete mit einem Aufschnupfen und zupfte sich ein Taschentuch aus dem Spender auf meinen Nachttisch. Nach einer weiteren Pause stupste ich sie wieder an und sagte: »O.K. Hier ist ein Knüller. Eine richtige Insidermeldung: Wenn ich mich eingelebt habe, werde ich Ray zu einer Art Hauseinweihung einladen.«
»Ray?«
»Ray Russo. Du weißt schon, der, der mich zu Nanas Beerdigung gefahren hat.«
»Nicht der Bonbonverkäufer?«
»Doch, der.«
»Hast du dich mit dem getroffen?«
Ich sagte, kaum, aber er habe sich einen Tag freigenommen, um auf die Beerdigung einer völlig Unbekannten zu gehen, und das sei meine Art, mich bei ihm zu revanchieren.
Sie drehte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah mich eindringlich an. »Du bist ja puterrot. An was für eine Art von Revanche hast du denn da gedacht?«
Ich hätte sagen können: »Bohnen und Wiener und ein Video.« Ich hätte sagen können: »Kein Kommentar«, oder: »Geht dich nichts an.« Aber sie lag neben mir, schnupfte noch immer vor sich hin, trug noch immer Schwarz und errichtete Ehrenmale zur Erinnerung an zweiundsechzig Jahre Freimütigkeit zwischen Mutter und Tochter. Also sagte ich: »Ich werde wahrscheinlich belegte Brötchen machen, eine Flasche Wein kaufen und dann, wenn alles gut geht, das Schrankbett aufklappen.«
»Wofür?«
»Für das, was normale, sexuell aktive Menschen auf einem Bett tun.«
Sie setzte sich auf. »Bitte sag, dass das ein
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