Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
ausgesprochen faszinierend, und wenn Sex für jede Spezies so etwas Natürliches ist, dann glaube ich, ich sollte ihn auch nicht so einfach abtun.«
»Aha«, meinte meine Mutter. »Dann ist dein bevorstehendes Rendezvous also hauptsächlich ein anthropologisches Experiment?«
»Ist das so furchtbar? Ich meine, was ist nicht furchtbar?«
Sie sah weg und zupfte sich noch ein Taschentuch aus dem Spender.
»Freust du dich denn gar nicht, dass ich über etwas gesprochen habe, das man in die Kategorie ›zwischenmenschlich‹ einordnen könnte?«
Sie antwortete nicht. Sie ließ die Schultern hängen. Ihr Blick wanderte zurück auf die markierten Blätter.
Ich überlegte, womit ich sie aufheitern konnte und versuchte es mit: »In dem neuen Gebäude gibt es eine Waschküche. Und einen Fitness-Club mit Saftbar.«
»Und das heißt was?« fuhr sich mich an. »Erweitertes Terrain für Feldversuche?«
Gab es eigentlich etwas, das ich nicht falsch machte? Geschlechtsverkehr war verkehrt. Jungfräulichkeit war verkehrt. Mich mit einem Mann unter meinem Stand abzugeben, war verkehrt. Meiner Mutter konnte ich es nicht recht machen, und ganz bestimmt keine Neunzigjährige als Vertraute und Busenfreundin ersetzen.
»Ich bin sehr müde. Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen.«
Sie hob den Kopf und schüttelte die Last meiner Gegenwart ab. »Ich gebe nicht auf. Wer weiß, wann wir uns wieder einmal unterhalten? Ich meine, ein wirkliches Gespräch miteinander führen. So wie jetzt, etwas, das in die Tiefe geht. Ich muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was dir gefällt - Nana ging es mit mir auch nicht anders. So, jetzt packen wir deine Sachen fertig, da sind wir schließlich ein unschlagbares Team, befördern diese Kartons auf die andere Straßenseite und stoßen auf einen Neuanfang an. Ich habe eine Flasche Sekt mitgebracht.« Sie strahlte mich an. »Wir waschen ein paar Ladungen Wäsche, und dabei erzählst du mir von deinen Ängsten bezüglich Samstagabend.«
»Samstagabend?«
»Dein Rendezvous! Deine Einweihungsfeier à deux !«
»Dieses Rendezvous muss ich als Arbeitshypothese hernehmen, denn ich habe schon seit ein paar Wochen nichts mehr von ihm gehört.«
Sie erhob die Hand zum Zeichen ihres Einspruchs. »Ich lasse mich nicht entmutigen. Du lädst Ray ja nicht um seinetwillen zu Essen und Liebesspielen ein, sondern als Vertreter der Gattung Mann, als Mittel zum Zweck. Wenn es also nur darum geht, jemanden an der Hand zu nehmen und ein Hindernis zu überwinden - dafür gibt es ausreichend Material.«
Ich nickte und versuchte, so auszusehen, als wäre ich ihren Argumenten zugänglich. Doch angesichts ihrer Bemühungen, Ray zu verdrängen und ihn durch einen anderen Alibimann zu ersetzen, machte sich plötzlich ein Anflug von Loyalität bei mir bemerkbar. Hatte ich nicht versprochen, ihn anzurufen, sobald ich mein eigenes Telefon hatte? Jetzt wurde mir auch klar, dass die Wiederannäherung von mir ausgehen musste. Ich musste den ersten Schritt tun. Ich hatte sein Schweigen als Desinteresse interpretiert. Aber vielleicht war er ja krank und nicht versichert. Vielleicht hatte man im Büro meine Karte gar nicht an ihn weitergeleitet. Vielleicht bewachte er gerade das Telefon, oder den Grabstein seiner Frau, und wartete auf meinen Anruf, mit einer Schachtel Pralinen in der Hand.
Hatte meine Mutter Recht? Besaß ich womöglich nicht die erforderlichen Qualitäten, um Angehörige primitiver Völker vor der Einsamkeit zu retten?
Höchste Zeit, das herauszufinden.
15
AUSBAU DER SOZIALEN BEZIEHUNGEN
Meine Mutter hatte Maßband, Schere und Schrankpapier mitgebracht. Sie habe mich dazu erzogen, meine Schubladen mit Papier auszulegen und mit Duftsäckchen frisch zu halten, behauptete sie. Da sie bereit war, sich selbst um das Zuschneiden zu kümmern, überließ ich ihr diese Aufgabe und machte mich selbst daran, die ohnehin schon makellos sauberen Küchenmöbel abzuwischen. Mir beim Nestbau behilflich zu sein, versetzte sie in gute Laune, als ob er einen Neubeginn und soziales Potenzial symbolisierte. Bald ging sie vom Schubladenauslegen zur Inspektion der Küchenschränke über, nicht ohne ihrer Verwunderung über die bemerkenswerte Reinlichkeit des Vormieters Ausdruck zu verleihen. Ich enthielt mich des Hinweises, dass Dr. Richard A. Gale, dessen Name noch an meiner Klingel stand und dessen nächste Angehörige mir seine Topflappen, seine Kühlschrankmagneten, seine Gewürze und seinen Duschvorhang mit
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