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Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift

Titel: Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elinor Lipman
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die Stoppuhr, die unsichtbar in meinem Kopf tickte. An Sonntagabenden war hier alles hell erleuchtet, und die Tische waren voll besetzt, weniger mit Personal als mit Besuchern von außerhalb. Die Salatbar zeigte sich in wochenendlicher Üppigkeit, sprich Parker-House-Brötchen statt den üblichen Weißbrotschnitten und Minzgelee in Papierförmchen ohne Extragebühr.
    In einer Anwandlung hemmungsloser Kontaktfreudigkeit platzierte ich meine Muschelsuppe und mein amerikanisches Chop Suey an einem Ende eines langen Tisches, an dessen anderem schon jemand saß, nämlich ein männlicher Kollege in rentenfähigem Alter. Ich wusste, dass das unter Kollegen so üblich war, man stellte sein Tablett ohne Einladung auf einen Tisch und stellte sich ganz zwanglos vor. Vielleicht würde mir dieser Tischgenosse ja später einmal freundlich zunicken, wenn unsere jeweiligen Spezialgebiete uns eines Tages wieder zusammenführten. Er hielt sich eine Papierserviette vor die Krawatte, während er die andere zur Auswahl stehende Suppe, eine schottische Graupensuppe, löffelte. »Wie geht’s denn heut Abend?«, fragte er.
    »Nicht besonders«, antwortete ich.
    Das Lächeln gefror ihm auf den Lippen. »Ist jemand krank? Ein Angehöriger?«
    »Nein, Verzeihung. Ich bin nicht zu Besuch. Ich arbeite hier.«
    »Fachausbildung?«
    »Ärztin im Praktikum. Chirurgie.«
    »Beileid«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Stuhl neben ihm. »Setzen Sie sich doch zu mir, dann muss ich nicht so schreien.«
    Als ich der Aufforderung folgte, stand er auf, reichte mir die Hand und nuschelte ein paar Silben, die wahrscheinlich seinen Namen enthielten. Dann sagte er: »Wollen Sie mir vielleicht erzählen, warum’s Ihnen nicht besonders geht?«
    »Ich habe mir im OP einen anscheinend unverzeihlichen Lapsus geleistet, und jetzt habe ich zwei Monate Bewährung.«
    Er wandte sich wieder seiner Suppe zu und breitete sich eine frische Serviette über die Krawatte. »Dann sind Sie wohl die junge Ärztin, die beim Halten eines Wundhakens eingeschlafen ist«, sagte er ganz ruhig. » Davon hab ich gehört.«
    »Von Dr. Hastings?«
    »Ich weiß nicht mehr, von wem.«
    »Ich bin ein Skandal. Aber leider einer von den ganz langweiligen, von denen, die mit dem Beruf zu tun haben.«
    Er nahm seinen Löffel, ließ ihn über der Suppe schweben und legte ihn wieder neben den Teller. »Erlauben Sie mir als Veteran zahlreicher medizinischer Scharmützel und Missgriffe einen Rat?«
    »Kündigen? Auf etwas Menschenwürdigeres umsteigen? In die Forschung gehen? Zum Militär? Risikoprüfer bei einer Versicherung werden?«
    »Nein. Nur das: Betrachten Sie dieses Versehen als Ding der Vergangenheit. Wenn Sie nicht loslassen und weiter mit Dr. Hastings hadern, bleibt es nur umso frischer und frisst sie von innen her auf.«
    »Das war Krieg. Er hat ihn vom Zaun gebrochen, und es ist nicht an mir, den Waffenstillstand auszurufen. Wäre es ein Delikt, andere zu quälen und in den Dreck zu ziehen, säße er schon hinter Gittern.«
    »Ich weiß Tischgenossen zu schätzen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, möchte aber doch darauf hinweisen, dass Vorsicht angebracht ist, wenn man sich in der Öffentlichkeit über einen Kollegen auslässt.«
    »Sind Sie ein Freund von ihm?«
    »Wir kennen doch alle Charlie Hastings. Freund? So weit würde ich nun wieder nicht gehen.«
    »Ich habe nichts zu verlieren. Er hasst mich. Er hat versucht, mich hinauszuekeln. Das hat er zwar nicht geschafft, aber ich habe jetzt Bewährung und werde wahrscheinlich schon morgen einen grauenhaften Fehler machen, und das war’s dann für mich.«
    Er lächelte. »Möchten Sie mir vielleicht sagen, wie Sie heißen?«
    Ich fragte, warum.
    »Nicht aus niedrigen Beweggründen. Nur der Etikette wegen.«
    Ich streute mir ein paar Austerncroutons über meine Suppe und sagte: »Ich bin Alice Thrift, der hoffnungslose Fall.«
    »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. Thrift.«
    Ich fragte, was für ein Arzt er sei. »Ich habe auch mit Chirurgie begonnen«, sagte er.
    »Und was machen Sie jetzt?«
    »Nach all den Jahren, all den Schlagzeilen über unsere sinkende Zahl und unsere Kunstfehler bin ich noch immer - Geburtshelfer.«
    »Ich hab mich schon immer gewundert, warum Männer sich mit Geburtshilfe beschäftigen. Ich selbst hatte natürlich auch einen Mann als Geburtshelfer, aber heute kommt es mir irgendwie seltsam vor, dass ein Mann sein Leben Teilen der Anatomie weiht, die er selbst nicht besitzt. Und deshalb auch

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