Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
nie im Leben nachvollziehen kann, was für Empfindungen in diesen Teilen ausgelöst werden können.«
Er antwortete nicht sofort. Nach einigen entschlossenen Vorstößen in seinen Chefsalat meinte er: »Ich habe mich für Geburtshilfe entschieden, weil es die meiste Zeit ein erfreuliches Gebiet ist. In siebenundneunzig Prozent der Fälle ist das Ergebnis ein gesundes Baby und eine glückliche Familie. Die Frauen kommen zu mir, weil ich gut bin, weil ich was von meinem Handwerk verstehe, auch wenn ich keinen Uterus und keine Zervix mein Eigen nenne. Und weil ich bei ihnen bleibe, egal, wie lange es dauert, bis das Baby endlich zur Welt kommt. Ich möchte hinzufügen, dass es auf manchen Gebieten - dem meinen, zum Beispiel - genauso wichtig ist, da zu sein, mit jemandem zu fühlen, wie sein Handwerk zu beherrschen.«
»Wie’s aussieht, kann ich keins von beiden.«
»Was Ihre chirurgischen Fähigkeiten angeht, dazu kann ich nichts sagen, aber Ihr Konversationstalent könnte noch ein wenig … gefördert werden.«
»Glauben Sie mir, ich weiß das nur zu gut. Meine Mutter glaubt, ich habe Asperger. Vielleicht sollte ich auf Pathologie umsatteln. Den Leichen ist Konversation nicht so wichtig.«
»Ich weiß, Sie haben das im Scherz gesagt, aber Pathologie ist wirklich ein sehr lohnendes Gebiet. Die Berichte aus der Pathologie sind das Gerüst, auf dem ich in meinen Beruf aufbaue.«
Ich fragte ihn, ob er Meredith - wie hieß sie gleich noch? - kenne, die Hebamme. Er lächelte, wenig überzeugend und eher ironisch, wie ich fand, und sagte: »Natürlich. Alle kennen Meredith. Eine Größe, mit der man unbedingt rechnen muss.«
»Sie ist die Freundin meines früheren Wohnungsgenossen. Kennen Sie Leo Frawley? Wir haben bis heute die Wohnung geteilt.«
Langsam rührte er in seiner Suppe herum, zog Kreise entlang des Tellerrands. »Und was ist heute passiert?«
»Ich bin umgezogen.«
»Von einem Moment auf den anderen?«
»Eine Wohnung ist frei geworden« - ich zeigte vage in Richtung der Türme -, »die hab ich mir geschnappt.«
»Das nennt man Glück. Die meisten meiner jungen Ärzte erzählen von einer legendären Warteliste.«
»Es ist nur ein Apartment. Die meisten Leute wollen zumindest eine Zweizimmerwohnung. Außerdem ist meine stigmatisiert. Der Vormieter starb darin und wurde nicht gleich gefunden.«
»Wer war das?«, fragte er, hellhörig geworden.
Ich sagte, sein Name sei Richard Gale gewesen, doch mehr wisse ich nicht.
»Keiner von meinen, Gott sei Dank. Trotzdem furchtbar … tragisch … was für eine Verschwendung.«
Ich bat ihn, seinen Namen zu wiederholen.
»Henry Shaw. Sagen Sie bitte Henry zu mir.«
»Darf ich wirklich?«
»Früher einmal konnte ich meinen Nachwuchs tatsächlich dazu bringen, mich so zu nennen, aber inzwischen versuch ich’s schon gar nicht mehr.« Er tätschelte sich die Glatze. »Bin offensichtlich schon zu distinguiert, um anders als »Doktor« tituliert zu werden.«
»Ich würde gerne Henry zu Ihnen sagen.« Ich ergriff meine Gabel und machte mich über mein Chop Suey her, das gratiniert und knusprig und ungewöhnlich lecker war. »Der Umzug hat mir anscheinend Appetit gemacht.«
»Und Sie konnten ihn nicht auf einen freien Tag legen?«
»Das ist mein freier Tag.«
Als Dr. Shaw nicht antwortete, fuhr ich unbeirrt fort. »Da war es am einfachsten, hier rüberzulaufen, um was zu essen, ohne Mantel oder feste Schuhe. Bequemlichkeit siegte über die Abneigung gegen Anstaltsfutter und diesen Geruch« - ich schnupperte - »nach Fertigpüree und Bratensauce.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Und siehe da, ich treffe auch noch auf höchst angenehme Tischgesellschaft an einem Sonntagabend … Sind Sie wegen einer Entbindung hier?«
Er lächelte. »Alles erledigt.«
»Mädchen oder Junge?«
»Junge.«
»Hat’s lange gedauert?«
»Nicht allzu lange.« Er zuckte bescheiden die Achseln. Also sehr lange.
Ich fragte ihn, warum er noch immer hier sei.
»Will sicher gehen, dass alles in Ordnung ist. Es gab ein wenig Aufregung um die Nabelschnur, aber dem Kleinen geht’s gut. Der Vater war von allen am meisten traumatisiert. Hat alles durch die Videokamera gesehen. Ich schau nur noch auf einen Sprung im Säuglingszimmer vorbei.« Er blickte mit gerunzelter Stirn auf die Anzeige seines Piepsers. »Und noch eines ist unterwegs. Ist ein bisschen früh dran. Fünfunddreißigste Woche.«
»Bei Ihnen hört sich alles so … harmlos an. Als ob Sie nie auf dem Zahnfleisch
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