Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
zurückgeben, sobald ich es schaffte, mir ein Ersatzpaar zu kaufen.
»Oder auch nicht«, meinte Sylvie. »Mir gefällt der Gedanke, dass das Ihre Erstlingsausstattung in Sachen Mode ist.«
Erstlingsausstattung. Ich fragte Sylvie, ob hier eine Generalüberholung stattfände - zuerst ein perlenbestickter Bolero und jetzt diamantbesetzte Ohrläppchen.
»Nein«, protestierte sie, zu schnell, um glaubwürdig zu sein. Sie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, besah sich meine bloßen Handgelenke, ihren Modeschmuck, meine Füße.
»Was haben Sie für eine Schuhgröße?«
Ray holte mich ab. Er trug den Anzug von der Beerdigung und eine Krawatte und sah durchaus vorzeigbar aus. Mein Outfit war unter meinem Parka versteckt, aber ich hatte die Farbe meiner Lippen mit getönter Lippenpomade betont, die ich in der Krankenhausapotheke erstanden hatte, und meinen Pferdeschwanz im Nacken zu einem Knoten gesteckt.
»Sieht sie nicht fantastisch aus?«, fragte er den Jüngling am Empfang.
Der Wächter sah blinzelnd hoch.
Ich marschierte weiter und bat Ray an der Tür leise, die Leute nicht in Verlegenheit zu bringen. Und welche Aussagekraft hätte die Bestätigung eines Angehörigen des Wachpersonals überhaupt, der es sich mit der Frau nicht verderben will, von der er sich nächste Weihnachten ein saftiges Trinkgeld erhofft?
»Na, dann verklag mich halt«, antwortete Ray. »Ist mir halt so rausgerutscht. Und wenn wir schon mal dabei sind, uns Ehrlichkeiten an den Kopf zu werfen, lass mich dir sagen, dass du einem Mann nicht unbedingt zwischen die Beine treten musst, wenn er dir ein Kompliment macht.«
»Hab ich das getan?«
»Nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber du neigst wirklich dazu, solche Dinge abzuschmettern als wären sie eine Beleidigung. Und ich sage dir das nicht, um dich zu kränken. Ich sag’s dir, weil wir jetzt unter Leute gehen, und weil du gut aussiehst, und jemand anderer dir heut Abend womöglich auch ein Kompliment macht.«
Ich sagte, danke für den Rat. Auch er sähe sehr gut aus.
Als wir im Auto saßen und den Anweisungen folgten, die ich von Jackie bekommen hatte, fragte Ray, ob er sich zusammenreißen solle.
»Inwiefern?«
»Na zum Beispiel, wenn wir da rumstehen, mit einem Glas in der Hand, und es mich plötzlich überkommt, meinen Arm um deine Schulter zu legen. Oder wenn wir beim Essen nebeneinander sitzen, und ich meine Hand auf deinen Schenkel lege. Würdest du da einen Rappel kriegen?«
»Also Jackie und Henry wissen, dass wir sexuellen Umgang hatten, deshalb wird eine zärtliche Geste sicher niemanden schockieren.«
Er blickte weiter geradeaus auf die Straße, wiederholte aber langsam und überdeutlich: »Sie wissen , dass wir sexuellen Umgang hatten? Ist das das bevorzugte Gesprächsthema an der Ärztetafel?«
»Es gibt keine Ärztetafel.«
»Wo ihr halt sonst eure sexuellen Beichten ablegt.«
»Klingt, als wärst du sauer.«
»Ich bin perplex. Ich dachte, du wärst der letzte Mensch auf Erden, der mit seinem Liebesleben hausieren geht, insbesondere, wenn du’s mit einem Typen wie mir treibst.«
War ich mit meinem Liebesleben hausieren gegangen? Ich war nicht dieser Ansicht. »Liebesleben« klang wie etwas Aktives, Fließendes, und ich hatte Liebe nur episodenhaft kennen gelernt … als Unfall sozusagen. So tiefe Einblicke hatte ich nur zugelassen, weil ich mir über Ray als festen Freund nicht sicher war.
»Ich dachte, deine Fernsehärzte erzählen sich dauernd die intimsten Dinge. Ist das nicht das, was diese Serien am Laufen hält? Sexuelle Enthüllungen am Arbeitsplatz?«
»Aber das ist doch nicht das richtige Leben. Die Typen im Fernsehen deuten solche Schlüpfrigkeiten doch nur an, damit die Zuschauer die Kiste am nächsten Tag wieder anmachen.«
»Tut mir Leid. In Zukunft werde ich diskreter sein. Und um deine ursprüngliche Frage zu beantworten: Wenn du bei Wein und Häppchen deinen Arm um mich legst, werde ich keinen Rappel kriegen.«
»Danke«, sagte Ray.
Sie wohnten in einem Haus mit Stuck und dunklem Fachwerk, ähnlich einem Chalet. An der Tür hing noch immer ein Weihnachtskranz, und ihr Briefkasten zeigte das Konterfei einer Kuh. Kaum hatten wir geläutet, öffnete Jackie die Tür, als habe sie schon die längste Zeit mit angehaltenem Atem dahinter gewartet. Sie war jünger als Henry - zehn, fünfzehn Jahre? -, zierlich und energisch, das kurze, blonde Haar ins Gesicht gekämmt. Adrett und fit wie sie war, erinnerte sie mich an
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