Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
sogar die ohne Kinder. Die bauen ihre ganze Karriere nach dem Kriterium Kinderkriegen auf, und zwar Kinderkriegen als Krönung des Daseins einer Frau. Wer, glaubst du, hat das eigenhändige Durchschneiden der Nabelschnur erfunden? Und Unterwassergeburten und Obstbaumpflanzen an der Stelle, wo sie die Plazenta begraben haben? Hebammen!«
Ich erklärte, ich sei überzeugt, dass amerikanische Ureinwohner schon Plazenten rituell beerdigt oder verspeist hätten, lange bevor -
»Du weißt schon, worauf ich hinauswill: ein Baby um jeden Preis. Diese Meredith war an allererster Stelle darauf aus, sich einen Vater für ihr Kind zu angeln.«
»Als Leo mir von ihr erzählte, schien er mir ziemlich verliebt.«
»So ein Krampf! Der ist fuchsteufelswild. Endlich kriegt er’s regelmäßig, und auf einmal sitzt er im Geburtsvorbereitungskurs. Glaub mir, die ist noch schnell aufs Ganze gegangen.«
Das war der Grund, warum ich so gern mit Sylvie zusammen war, besonders, wenn sie ihren Zynischen hatte: Sie hatte nicht die geringsten Skrupel, völlig Unbekannten erst einmal alles Mögliche zu unterstellen. An dieser Meinung hielt sie fest bis zum Beweis des Gegenteils. Mich dürstete danach, solchen Sylvies auch in anderen Bereichen meines Lebens zu begegnen. Lange schon hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, der einzigen anderen Ärztin im Praktikum, der glamourösen Stephanie aus Manhattan (mit Zwischenstopps an zwei Eliteunis) könne aufgehen, dass wir auf dem Seelenverkäufer »Chirurgie« eine Kabine teilten. Manchmal, wenn ich mir morgens um 5.30 Uhr kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, versuchte ich mir vorzustellen, welcher Produkte und zeitlicher Reserven es bedurfte, Wimpern dunkel und präzise getrennt und Lider zu einer Fläche silbriger Pastelle werden zu lassen. Sogar unsere Namen trennten uns: Alice und Stephanie - Nomenklatur als Schicksal. Manchmal betrachtete ich sie und die goldenen Strähnen in ihrem wallenden Haar und stellte mir vor, dass Außerirdische, die in unserer Klinik landeten, nie und nimmer vermuten würden, dass Dr. Stephanie Crawford und Dr. Alice Thrift derselben Spezies angehören könnten.
Und da trat Sylvie in mein Leben, die, kaum dass wir uns kennen gelernt hatten, schon meine Gesellschaft suchte, mir Kleider lieh und Ohrringe stach. Die quer durch die Kantine brüllte, um mich zu begrüßen, und mir jeden Mitreisenden im Fahrstuhl vorstellte, den sie auch nur entfernt kannte. Rasch wurde mir klar, dass, gemessen an der Intimität, die Sylvie bei unserer ersten gemeinsamen Wanderung herstellte, die Beziehungen zu meinen Zimmergenossinnen auf der Uni saft- und kraftlos gewesen waren.
»Wie lang habt ihr beide zusammengewohnt, du und Leo?«
»Genau sechs Monate.«
»Nur als Freunde?«
So sprachen Freundinnen beim Power-Walking miteinander. In regelmäßigen Abständen wurden wir von anderen Ärzten kollegial gegrüßt. Ich erkannte, dass Sylvie sich deutlich abhob von all den anderen weißen Kitteln, die in einer Institution wie der unsrigen zu einer einförmigen Masse geronnen. Mit ihrer Zweiton-Frisur und den Ohrläppchen, die alle Blicke auf sich zogen, ragte Sylvie aus dieser Menge heraus. Im Gegensatz zu uns anderen erweckte sie nicht den Eindruck einer Geschundenen und fühlte sich auch nicht bemüßigt, ständig darauf hinzuweisen, wie erledigt sie sei. Ich hatte großes Glück gehabt, in meinem neuen Domizil auf ein Gegenüber gestoßen zu sein, das sich nicht nur als gute Nachbarin, sondern auch als immun gegen meine Verhaltensauffälligkeiten erwies. Ich sprach meine Zweifel an diesem ersten Sonntagmorgen auch gleich aus. »Ich hoffe, ich bin keine allzu langweilige Laufpartnerin.«
»Du bist keine Wichtigtuerin«, konstatierte Sylvie. »Du antwortest, wenn man dich anspricht, oder wenn du etwas zu sagen hast. Du bist schüchtern. Schüchternheit ist in Ordnung.«
Ich eröffnete ihr, dass ich kaum jemals gehört hätte, mein Zustand sei in Ordnung. Ganz im Gegenteil.
»Ich war früher auch schüchtern«, eröffnete mir Sylvie. »Als Kind. Aber dann habe ich mich bewusst dafür entschieden, das zu überwinden.«
»Wie?«
»Es ist mir peinlich, dir das zu erzählen. Es ist wirklich nicht besonders originell.«
»Bitte«, flehte ich sie an. »Wenn jemand das hören muss, dann ich.«
»O. K. Die schreckliche Wahrheit ist: Ich habe gelernt, wie man diesen Stab schwingt, diesen Show-Baton, und ich war wirklich gut. Ich konnte ihn rumwirbeln und hinter dem Rücken auffangen - du
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