Der dreizehnte Apostel
ohne Geldwechsler? Wo ist eine Moschee ohne das Gift des Fanatismus? Wo eine Kirche ohne Heuchelei?)
Lucy beobachtete einen Jungen, der gerade seine Bar Mizwa feierte, den Eintritt ins gebetspflichtige Alter, und von seinem Vater auf der Schulter herumgewirbelt wurde, während die anderen Männer einen Kreis bildeten und tanzten und jubelten, weil ein neues, mündiges Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Die Frauen der Familie, die getrennt von den Männern beiseite standen, klatschten.
Ich bin Gott sei Dank ein Geschöpf der eurozentri schen westlichen Welt, dachte Lucy, so unmodern und politically incorrect das in den neunziger Jahren sein mag. Bei dieser orientalischen Religiosität war ihr irgendwie unbehaglich. Ob langbärtige Juden, die sich demütig vor der Mauer niederwarfen, oder Moslems, die sich fünfmal am Tag rituell verneigten, oder zahllose orientalische Christen mit ihrer Weihrauch geschwängerten Frömmigkeit – für Lucy waren sie alle Eingeborenen vergleichbar, die um das Feuer tanzen, Indianer, die ein Totem verehren, oder andere Stämme, bei denen die Sonne oder ein Stein angebetet wird. Überbleibsel von Stammesgefühl und Primitivität. Nein, sie zog den intellektuell verfeinerten Gott vor, über den man in der Universitätscafeteria diskutierte, den amerikanischen Verstandesgott, den die Deisten der Aufklärung und die Gründerväter konzipiert hatten, einen gütigen Gott, den man sich – für alle Fälle – in Reserve halten konnte. Ich bete einen ganz privaten, einen berechenbaren Gott an, der in meinem Herzen existiert, erkannte Lucy.
Nach dem Essen spazierten sie über den Platz vor der Hurva-Synagoge. Dieser Platz im jüdischen Viertel, erzählte der Rabbi, war eine der gelungensten Ar chitekturleistungen des israelischen Staates. Das Gelände, das im Krieg von 1967 bombardiert und zuvor auch nur ein Slum gewesen war, hatte man geräumt und als einen großen modernen Platz gestaltet, der zugleich die Vergangenheit respektierte, erbaut aus demselben weißen Stein, aus dem die Altstadt errichtet war. Ein mächtiger Bogen, der die große Hurva-Synagoge repräsentierte, erinnerte an das muntere jüdische Leben, das es hier einmal gegeben hatte – und nun wieder gab. O’Hanrahan beobachtete ein paar israelische Jungen, die ein Fußballspiel improvisierten, während zwei ältere orthodoxe Rabbis wie blind über das Spielfeld schritten, in ihre Meinungsverschiedenheiten vertieft. Sie kamen an einer Reihe von Säulen vorbei, die von einer Ausgrabung am Rand des Platzes stammten, Hadrians Cardo, Reste einer ehemals großen römischen Prachtstraße.
O’Hanrahan setzte sich in ein Straßencafé auf dem Platz und bestellte trotz der Proteste seiner Begleiter, die meinten, man habe beim Abendessen genug Wein gehabt, noch eine Karaffe Rotwein, einen Tropfen von den Hängen des Karmel.
Der Rabbi nippte und zog eine Grimasse. »Iiii. Das nächste Mal lasse eine Flasche kalifornischen Weins kommen. Übrigens, Paddy, komm einmal bei mir zu Hause vorbei, solange du hier bist, und sieh nach, ob du welche von Shimons Büchern haben willst, bevor ich sie bei den Frömmlern ablade.«
»Das ist die ungehörigste Verbindung dieses Jahrhunderts«, behauptete O’Hanrahan. »Früher war in den Staaten ein Jude immer auch ein Liberaler, aber seit Ende der siebziger Jahre stimmen die amerikanischen Juden für die Republikaner, weil sie glauben, das nütze Israel. Sie haben Jerry Falwells und Jim Bakkers Geld genommen und haben gemeinsam mit reaktionären Baptisten, die vor zehn Jahren noch in den Vorgärten von Juden Kreuze verbrannt haben, auf Rednertribünen gestanden. Und glaub ja nicht, daß ein Wasp wie George Bush, der in Yale studiert hat, Israel mag, das tut er nämlich nicht …«
»Hey, irgendwie muss Israel seine Rechnungen
doch zahlen.« Der Rabbi zuckte die Achseln.
»Erzähl Lucy von der Bibliothek, Morey, wenn du es fertigbringst, darüber zu reden«, forderte O’Hanrahan seinen Freund auf. Der Rabbi räusperte sich. »Er tut, als würde ich ein Verbrechen begehen. Rabbi Shimon Feldman, ein eingefleischter Bibliophile, hat seine Bibliothek, die aus Tausenden von Bänden besteht, dem Vermögensausschuß der Hebräischen Universität vermacht, in dem ich Mitglied bin. Feldman hatte über fünftausend Bücher mit Kommentaren zum Alten Testament, von denen manche, wie ich stolz sagen kann, die einzig existierenden englischen Ausgaben der weniger bedeutenden mittelalterlichen
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