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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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Ihnen fast verziehen.«
    Ohne weitere Umschweife stürzte sich O’Hanrahan in die Arbeit: »Morey und ich haben es Anfang des Jahres beide von de r Hand gewiesen, daß der Matthi as meroïtisch sein könnte, aber das war, bevor ich neulich abends einen näheren Blick in neuere deutsche Literatur geworfen habe. Meroïtisch hat dreiundzwanzig Buchstaben – vier Vokale, siebzehn Konsonanten und zwei Diglyphe –, und die Wörter sind durch Doppelpunkte getrennt. Und genauso ist es bei unserer Schriftrolle. Das Meroïtische, das Fletcher 1909 untersucht hat, war ganz anders, und dieses Buch haben Morey und ich benutzt; aber wenn man sich die nubischen Manuskripte ansieht, die man bei den Bauarbeiten für den Assuan-Staudamm in den sechziger Jahren entdeckt hat, findet man ein späteres Meroïtisch, und das passt vollkommen zu unserer Schrift.«
    »Ich weiß nicht einmal, was für eine Art von Sprache das ist.«
    »Dann sind Sie in guter Gesellschaft. Niemand hat das Meroïtische bisher übersetzt.«
    »Was ist das für eine Sprache?«
    »Ein ägyptischer Dialekt aus der Nilgegend vermutlich, obwohl es sehr schnell ganz besondere Eigenarten entwickelt hat. Auch die Zeitgenossen des Reichs von Meroë konnten es nicht sprechen. Wie alle Nilsprachen hatte es sich etwa 200 v. Chr. aus einem linearen hieroglyphischen zu einem hieratischen Alphabet und schließlich zu einer eher demotischen geschriebenen Sprache entwickelt.«
    »Und es ist absolut nicht zu entschlüsseln?«
    »Ha. Wenn das Matthäusevangelium tatsächlich in einer Form des Meroïtischen geschrieben ist, werden wir zum einen berühmt für das Evangelium selbst und zum zweiten dafür, daß wir dieses bislang ungelöste Geheimnis geknackt haben. Seit über einem Jahrhundert haben verschiedene Leute an dieser gottverdammten Sprache gearbeitet.«
    »Gibt es überhaupt Hinweise?«
    »Ja. Durch Vergleiche der Namen von Pharaonen und Gottheiten mit ihrer Schreibweise im Meroïtischen hat man herausgebracht, für welche Laute die verschiedenen Buchstaben stehen. Wir kennen die Klangform der Sprache, aber die Bedeutung bleibt Kauderwelsch. Die Grammatik widersetzt sich jedem bekannten System. Und das ist das knifflige Problem, vor dem wir stehen.«
    O’Hanrahan legte einen gelben Notizblock auf den Tisch und kritzelte eine Reihe von Buchstaben auf die Seite:
    NNSTDZTFRLLGTNMNNRHRMLNDZHLFZKM MN
    »Können Sie das lesen, Luce?«
    »Nein«, lachte sie.
    »Das ist ein Beispielsatz, den ich in meinen Kursen verwendet habe. Ein Satz in unserer Sprache – aber ohne Interpunktion, und, wie in allen semitischen Sprachen, ohne Zeichen für die Vokale; keine Hinweise darauf, wo ein Wort aufhört und das nächste anfängt. So sehen die Schriftrollen vom Toten Meer für Uneingeweihte aus.« O’Hanrahan ließ Lucy einen Augenblick auf den Satz starren, bevor er ihn entschlüsselte: »Nun ist die Zeit für alle guten Männer, ihrem Land zu Hilfe zu kommen.«
    »Oh, ich verstehe«, flüsterte Lucy. »Jetzt, wo Sie mir es gesagt haben, sehe ich es in gewisser Weise.«
    »Und so konnten es auch die Hebräer sehen, die die Qumran-Rollen gelesen haben. Sie kannten den Stoff, bevor sie ihn gelesen haben. Sie hatten das auswendig gelernt, weil ihre Erinnerungen die einzig sichere Überlieferung waren – wer konnte in jenen Tagen garantieren, daß ein Papyrustext oder eine Schriftrolle die Zeit überdauern würde? Die Hymnen der altindischen Veden aus dem Jahr 2000 v. Chr. sind bis heute lebendig, weil es noch im 19. Jahrhundert Inder gab, die den Text perfekt auswendig konnten – in einer Sprache, die seit drei Jahrtausenden tot war. Alexander der Große rezitierte die gesamte Ilias, um sein Feldlager zu unterhalten. Wenn sich Menschen einer solchen Aufgabe widmen, dann haben sie ein wahnsinnig gutes Gedächtnis, das kann ich Ihnen sagen.« O’Hanrahan setzte sich auf den Bettrand. »Glücklicherweise tappen wir nicht ganz und gar im dunkeln, weil das Meroïtische uns mit den Doppelpunkten sagt, wo die Wörter enden. Trotzdem …« Er beugte sich vor und holte einen brandneuen Satz Fotos des Matthiasevangeliums hervor, eine Gefälligkeit von Rabbi Hersch. » … trotzdem, sehen Sie sich die erste Zeile dieses Evangeliums an.«
     
    »So«, sagte O’Hanrahan und zog wieder seinen gelben Notizblock heran. »Wenn Rabbi Rosen nicht völlig irrte, ist dies hier ein Brief an Josephus, von seinem Bruder Matthias. Ich habe nie von einem archäologischen Fund gehört, der einen Brief

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