Der dreizehnte Apostel
wenn er eines geschrieben hätte, wer würde es glauben, wenn er es liest? Lucy vermutete, daß sie auch Simon den Zeloten streichen konnte. Jüdische Unab hängigkeitspropaganda wäre von der Kirche kaum bewahrt worden … es sei denn, er hätte sein Zeloten tum aufgegeben. Und ein Simonevangelium würde das Interesse des Rabbi erklären. Bartholomäus, vielleicht. Lucy meinte sich zu erinnern, daß es ein apokryphes Bartholomäusevangelium gab, das sie irgendwo einmal gesehen hatte. Sie schlug im Lexikon unter dem Stichwort nach. Tatsächlich, es gab eine Abschrift eines gr iechischen Bartholomäusevangeli ums, die aus dem 4. Jahrhundert stammte, die Verfasser des Eintrags bezweifelten allerdings ihre Authentizität ebenso wie eine imposante Liste von Kirchenvätern, von Origenes bis Hieronymus. Gelasius setzte es per Dekret auf den Index. Sah nicht vielversprechend aus. Aber vielleicht hatte O’Hanrahan eine frühere Abschrift gefunden, irgendetwas , das authentischer war. »Hallo, Miss O’Hanrahan«, sagte eine sarkastische Stimme neben ihr, so daß Lucy erschrocken zusammenfuhr. Es war Rabbi Hersch. »Ich sehe, wir haben eine Liste der zwölf Apostel«, bemerkte er und warf einen prüfenden Blick darauf. »Ich würde nicht darauf wetten, daß Sie es herausbekommen.«
»Man weiß nie«, erwiderte sie. »Ich könnte es Dr. O’Hanrahan ja aus der Nase ziehen.«
Der Rabbi sah heute salopp aus, braungebrannt und fit, und trug eine Tweedjacke mit Lederflicken an den Ellbogen – ein Überbleibsel aus der akademischen Welt Ende der Sechziger. »Trinken wir zusammen Tee?« Sie gingen ins Queen’s Lane Café in der High Street, gegenüber von den Prüfungssälen, wo sich im Augenblick eine Traube aufgeregter Studenten in Uniform bildete, um die Examenskandidaten, die bald herauskommen würden, mit Champagner zu bespritzen. Um diese Mittagszeit war das kleine Tee stübchen voll, aber der Rabbi und Lucy bahnten sich mit ihren vollen Tassen einen Weg zu einem Fenster tisch .
»Nun wollen wir erst einmal etwas klarstellen«, begann Rabbi Hersch. »Sie sind aus Chicago herübergekommen, um Paddy nach Hause zu schleppen? Ihm auf die Finger zu klopfen?«
»Sir Rabbi, Sie können sich vorstellen, was man im Fachbereich denkt. Ich meine, er hat wirklich ziemlich viel aufs Spiel gesetzt.«
Der Rabbi forderte Lucy mit einer Geste auf, die Sache näher zu erklären. »Dr. O’Hanrahan hat sein Haus verkauft. Hat sich seine Lebensversicherungs police auszahlen lassen. Hat seine Bankkonten aufgelöst. Hat die Kreditkarte des Fachbereichs geplündert, und wie ich die Sache sehe, steht er kurz vor dem Limit seiner eigenen Karte.«
Der Rabbi rieb sich die Stirn. »Nununununu, warum hat er mir das nicht gesagt? Er hat sein Haus verkauft? Zuschüsse, hat er mir gesagt – er werde Zuschüsse bekommen.«
Hoppla, dachte Lucy, der Rabbi hat nichts von alldem gewusst . »Nein, ich bin sicher, daß keine Zuschüsse bewilligt sind. Aber wenn ich einen positiven Bericht nach Chicago schicken könnte, würden sie ihm vielleicht helfen, ihm vielleicht Geld schicken …«
»Bah, nie! Zuviel böses Blut.« Der Rabbi zerrte an seinem gepflegten grauen Bart. »Er ist krank, wissen Sie. Geht ihm gar nicht gut.«
»Wirklich?«
»Seine Leber, sein Blutdruck, seine Arterien – Sie haben ja gesehen, wie er auf die Pauke haut.«
»Es ist eine Schande.«
»Und ich werde Ihnen noch etwas sagen, kleines Mädchen. Seit …« Lucy nickte schnell, um zu zeigen, daß der Rabbi nicht in die Einzelheiten gehen musste ; sie wusste , daß O’Hanrahan seine Familie, Frau und Sohn, das einzige Kind, vor Jahren durch einen Unfall verloren hatte. » … seit dem Unfall ist er ins Chaos abgedriftet. Ich dachte, er sei erledigt. Aber er ist wieder da! Der auferstandene O’Hanrahan, lebendig und so strotzend vor Energie, wie ich ihn nie gesehen
habe. Ich will nicht zusehen, wie das wieder aufhört. Ich will nicht sehen, daß man ihn fertigmacht oder zurückhält. In gewissem Sinn ist es mir egal, ob er dieses Evangelium findet oder nicht, aber solange er hofft, es zu finden, bleibt er am Leben, hat er etwas, wofür er lebt, kapiert?« Anklagend deutete er mit dem Finger auf Lucy. »Ich will nicht, daß Sie sich ihm in den Weg stellen.«
»Nein, Sir.«
Er griff in die Jackentasche und zog eine dünne Brieftasche für Travellerschecks und ein Bündel von 20-Pfund-Scheinen heraus. Er zählte, fünf, sechs … zehn Scheine zu 20 Pfund ab, steckte alles in
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