Der dritte Berg
warf. Wenn das Anil, der total besoffene Anil, den ich durch die amerikanischen Gipsplattenwände schnarchen hörte, geahnt hätte!
Ich schalte mein Mobiltelefon auf stumm, wälze mich wieder aus dem Bett und suche nach meinen Ohrenstöpseln, ohne die ich in Hotels nicht schlafen kann. Dann sehe ich mir noch Kalonagars Satellitenbild an. Liegt am Meer, ein wenig auseinandergespreizt, ein paar Wolkenkratzer, hübsche ocean side , flaches Hinterland, und fahre meinen Computer endgültig herunter. Was kann einer wie Christian dort zu suchen haben, in dieser Stadt der Banken, der Autofabriken und technischen Universitäten? Einer steinreichen Hafenstadt, die seit zweihundert Jahren lebt, als hätte es die Raubzüge der East India Company niemals gegeben?
ALS DIE ENGLÄNDER Indien Schritt für Schritt eroberten, taten sie das nicht als Engländer, sondern als Angestellte einer Firma. Es war, als würden Manager von British Petrol oder von General Motors oder Halliburton ausrücken, um Feldzüge zu organisieren, fremde Truppen anzuheuern, Herrscherfamilien gegeneinander auszuspielen und sich auf diese Weise eine ungefährdete, von Monopolen, Flinten und bestochenen Pappkönigen gesicherte Geschäftsbasis schaffen.
Jedenfalls so lange, bis der Laden von allein lief. Bis die lokale Wirtschaft am Boden lag und auf britische Produkte angewiesen war. Und man ganz ungeniert selbst regieren konnte. Ich habe über die Briten in Indien eine Menge gelesen, und Anil kann von diesem Thema gar nicht genug kriegen. Manchmal sind wir in Kontakt per Mail (doch niemals, niemals mit Sunita).
Immer, wenn ich über diese Zeit nachdenke, habe ich das eigenartige Gefühl, die Engländer hätten im Herzen nicht so recht gewusst, was sie mit Indien eigentlich anstellen sollten. Also versuchten sie es mit dem, das ihnen als Erstes in den Sinn kam: räuberischer Handel und Geld. Auf den Gedanken, es mit einer Kultur zu tun zu haben, die der ihren sehr lange Zeit überlegen gewesen war, kamen sie ohnehin nicht.
Die Herrschaft des englischen Unternehmens gedieh im Verein mit seiner eindrucksvollen Bilanz. Ein Monopol ist eine feine Sache, ein Quasimonopol auch. Doch damit Exportgewinne und Handel nicht noch gefährdet wurden, war man gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen. Man konnte diesen braunen Hurensöhnen doch nicht erlauben, Saatgut zu lagern. Also verbot man in Bengalen kurzerhand das Horten von Reis. Zu Anfang starb ein Drittel aller Bengalen an Hunger, da es in einem schlechten Erntejahr keine Reserven gab. Zehn Millionen kleine braune Menschen, die eine Gegend bewohnt hatten, die eine Handvoll Jahre zuvor noch die reichste Region der Erde gewesen war. Später wiederholte sich diese Geschichte in abgewandelten Formen in anderen Teilen Indiens. Und am Ende haben die Briten und ihre Handelsinteressen in Indien mehr Leute um die Ecke gebracht als Hitler und Stalin auf der ganzen Welt zusammen. In der Geschichtsschreibung stehen die Briten heute als demokratische Saubermänner mit ein paar menschlichen Makeln da. Es gibt historische und historiografische Leistungen, die muss man einfach würdigen.
Fiala ist müde und hat schlechte Laune. Vielleicht weil ich heute Morgen zu viel nachgedacht habe und eine halbe Stunde zu spät bin.
»Was sagt Ihre Spurensicherung?«
»Spuren? Welche Spuren? Die Wohnung sauber, und direkt auf der Leiche: null. So blitzblank wie die Oberfläche des Pluto.«
Fiala steckt sich eine Zigarette an. Er sieht völlig leer aus; so als hätten die letzten Tage ein Leck in ihn geschlagen. »Jetzt zur Sache. Wir müssen im Fall Chelseworth weiterkommen. Man droht uns mit Scotland Yard! Wie wollen Sie Ihren Kaffee denn?« Er greift zum Telefon.
»Wenig Milch und wenig Zucker«, sage ich. Fall Chelseworth? Scotland Yard? Von Suizid scheint keine Rede mehr zu sein. Ich werde überrumpelt von dieser unerwarteten Erkenntnis.
»Johnny, Kaffeetscherl«, ruft Fiala ins Telefon, »zwei Mal, mit Drum und Dran. Das Übliche für mich. Hey? Und die Listen, Chelseworth, wenn ich den Herrn bitten darf.«
Dann steht Fiala auf, geht aus dem Zimmer und lässt mich allein. Fialas Büro ist ein wenig schmuddelig, aber angenehm leer. An der Wand links von mir ein großer Druck von ein paar von Andy Warhols Marilyn Monroes. Moderne Symbole für den spektakulären Niedergang einer Kunstrichtung.
Mit zwei Listen, zwei ordentlichen Tassen Kaffee, einer Kaffemilchpackung, Zucker und einer Mikrowellen-Pizzaschnitte für Fiala tanzt Johnny
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