Der dritte Schimpanse
Nahrungsüberschüsse und auch keine konzentrierten Nahrungsquellen wie Obstplantagen oder Viehherden. Sie leben vielmehr von dem, was sie täglich sammeln oder erbeuten. Außer Kleinkindern, Kranken und Alten sind alle an der Nahrungssuche beteiligt. Deshalb gibt es bei ihnen keine Könige oder Individuen, die einen spezialisierten Beruf ausüben, keine Klasse sozialer Schmarotzer, die sich auf Kosten anderer Fett anfressen.
Nur in bäuerlichen Gesellschaften konnten sich Gegensätze zwischen krankheitsgeplagten Massen und kerngesunden, müßiggehenden Herrschaftsschichten her ausbilden. Skelette aus griechischen Grabstätten in Mykene aus der Zeit um 1500 v. Chr. lassen darauf schließen, daß die Herrscher besser genährt waren als ihre Untertanen. An ihren Skeletten ließ sich ablesen, daß sie nicht nur fünf bis acht Zentimeter größer im Wuchs waren, sondern auch bessere Zähne hatten (im Durchschnitt ein Loch oder eine Zahnlücke statt sechs). Bei den Mumien von chilenischen Friedhöfen aus der Zeit um 1000 v. Chr. unterschieden sich die Angehörigen der Herrschaftsschicht nicht nur durch den Grabschmuck, sondern auch durch eine viermal so niedrige Zahl von Knochenverletzungen aufgrund von Infektionskrankheiten.
Solche Hinweise auf Gesundheitsunterschiede in bäuerlichen Gemeinschaften treten in der modernen Welt in globalem Maßstab auf. Für die meisten amerikanischen und europäischen Leser klingt die Behauptung, es würde der Menschheit, wären wir alle Jäger und Sammler geblieben, im Durchschnitt besser gehen als heute, einfach lächerlich, da sich die Menschen in den Industriegesellschaften überwiegend einer besseren Gesundheit erfreuen als die meisten Jäger und Sammler. Doch Amerikaner und Europäer stellen in der heutigen Welt eine Oberschicht dar, die von Öl und anderen Produkten aus Ländern mit armer Bevölkerung und viel niedrigerem Gesundheitsstandard abhängig ist. Ließe man Ihnen die Wahl, ob Sie ein Mittelschichtsamerikaner, ein Buschmann oder ein äthiopischer Bauer sein wollen, so wäre die erste Wahl sicher die gesündeste, die dritte aber womöglich die ungesündeste.
Während die Landwirtschaft also erstmals zur Entstehung sozialer Klassen führte, verschärfte sie womöglich auch die bereits vorhandene Ungleichheit der Geschlechter. Frauen wurden mit ihrer Einführung oft in die Rolle von Packeseln gedrängt, durch häufigere Schwangerschaften entkräftet (siehe unten) und dadurch kränklicher. Bei den chilenischen Mumien aus der Zeit um 1000 n. Chr. stellte man bei den Frauen öfter Knochen- und Gelenkentzündungen und Knochenverletzungen aufgrund von Infektionskrankheiten fest als bei Männern. In neuguineischen Bauerndörfern sehe ich oft Frauen unter schwindelnden Lasten von Gemüse und Feuerholz schwanken, während Männer mit leeren Händen neben ihnen einherschreiten. Einmal bot ich einigen Dorfbewohnern eine Entlohnung dafür an, daß sie Vorräte von der Flugzeugpiste zu meinem Lager in den Bergen trü-gen. Mehrere Männer, Frauen und Kinder fanden sich dazu bereit. Der schwerste Gegenstand war ein Sack mit 100 Pfund Reis. Ich zurrte ihn an einem Holzstab fest und wies vier Männer an, ihn gemeinsam zu schultern. Als ich die Gruppe nach einiger Zeit eingeholt hatte, trugen die Männer leichte Lasten, während eine Frau von kleinem Wuchs, die sicher weniger als der Sack Reis wog, unter dessen Gewicht gebeugt dahertrottete, mit einer Schläfenschnur zum besseren Halt.
Zu der Behauptung, die Landwirtschaft habe das Fundament für die Kunst gelegt, indem sie uns Freizeit bescherte, sei bemerkt, daß neuzeitliche Jäger und Sammler im Durchschnitt mindestens genausoviel Freizeit haben wie Bauern. Ich räume ein, daß manche Bewohner von Industrie- und Agrargesellschaften über mehr Freizeit verfügen als Jäger und Sammler, jedoch nur auf Kosten der vielen anderen, auf deren Arbeit ihr Wohlstand fußt und die sich an weit weniger Freizeit erfreuen. Zweifellos ermöglichte erst die Landwirtschaft die Miternährung von Personen, die sich ausschließlich dem Handwerk oder der Kunst widmeten und ohne die es Großprojekte wie die Sixtinische Kapelle und den Kölner Dom nicht gegeben hätte. Mir erscheint jedoch das ganze Gerede über Freizeit als entscheidenden Faktor bei der Erklärung von Unterschieden in der Kunst verschiedener menschlicher Kulturen als irreführend. Es ist schließlich nicht Zeitmangel, was uns
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