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Der dritte Schimpanse

Der dritte Schimpanse

Titel: Der dritte Schimpanse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jared Diamond
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Kapitel 9
Wie die Kunst im Tierreich entsprang
    Siris Zeichnungen brachten ihr großes Lob ein, sobald andere namhafte Künstler sie zu Gesicht bekamen. »Sie haben so ein Flair, so eine Endgültigkeit und Originali­tät«, lautete die erste Reaktion von Willem de Kooning, dem berühmten Urheber abstrakter expressionistischer Gemälde. Jerome Witkin, eine Autorität auf dem Ge­biet des abstrakten Expressionismus und Kunstprofes­sor an der Syracuse University , war noch überschweng­licher : »Diese Zeichnungen sind höchst sensibel, positiv und spannungsgeladen. Die Energie darin ist so kom­pakt und beherrscht, es ist unglaublich … Diese Zeich­nung ist so elegant, so delikat … Sie verrät ein Gespür für das Innerste der Gefühle.«
    Witkin applaudierte Siris Balance von positivem und negativem Raum und der Anordnung und Ausrichtung der von ihr verwendeten Bildelemente. Nachdem er die Zeichnungen gesehen hatte, ohne etwas über den Urhe­ber zu wissen, riet er korrekt, daß der Künstler weiblich war und ein Interesse für asiatische Kalligraphie hatte. Worauf er nicht kam, war, daß Siri zweieinhalb Meter groß und vier Tonnen schwer war, nämlich ein Asiati­scher Elefant, der mit dem Bleistift im Rüssel zeichnete.
    Mit Siris wahrer Identität konfrontiert, rief de Kooning aus : »Ein verdammt talentierter Elefant !« In Wirk­lichkeit war Siris Leistung nach Elefantenmaßstäben gar nicht außergewöhnlich. Freilebende Elefanten vollfüh­ren oft mit dem Rüssel Zeichenbewegungen im Staub, und in Zoos kann man beobachten, wie sie spontan mit einem Stock oder Stein Zeichen in die Erde ritzen. Viele Arzt- und Anwaltspraxen schmücken die Gemälde einer Elefantendame namens Carol, von deren Werken Dut­zende für bis zu 500 Dollar das Stück verkauft wurden. Angeblich ist Kunst das edelste unter den spezifisch menschlichen Attributen – etwas, worin wir uns min­destens so sehr von den Tieren, die nichts entfernt Ver­gleichbares aufzubieten haben, unterscheiden wie im ge­sprochenen Wort. Kunst gilt als noch edler als Sprache, da letztere im Grunde »nur« einen Fortschritt, wenn auch einen gewaltigen, gegenüber tierischen Verstän­digungsweisen darstellt, offenkundig eine biologische Funktion im Überlebenskampf erfüllt und aus den von anderen Primaten erzeugten Lauten hervorgegangen sein dürfte. Demgegenüber erfüllt Kunst keine durch­sichtige Funktion, und ihren Ursprung umgibt die Aura des Geheimnisvollen. Die Kunst der Elefanten könnte aber durchaus Folgen für unser Kunstverständnis haben. Zumindest handelt es sich ja um eine ähnliche körper­liche Aktivität mit Resultaten, die selbst Experten nicht von menschlichen Werken mit der amtlichen Bezeich­nung »Kunst« zu unterscheiden vermochten. Natür­lich gibt es enorme Unterschiede zwischen Siris Kunst und unserer. Einer davon, und sicher nicht der geringste, liegt darin, daß Siri nicht die Absicht verfolgte, ande­ren Elefanten etwas mitzuteilen. Dennoch läßt sich ihre Kunst nicht so leicht als Marotte und Einzelfall von der Hand weisen.
    In diesem Kapitel will ich mich außer mit den kunst-ähnlichen Aktivitäten von Elefanten auch mit denen einiger anderer Tierarten befassen. Solche Verglei­che machen es leichter, die ursprünglichen Funktionen menschlicher Kunst zu begreifen. Mögen Kunst und Wissenschaft auch oft als Gegensätze verstanden werden, erscheint mir eine Wissenschaft von der Kunst doch als gar nicht so abwegig.
    Um deutlicher zu machen, daß es Vorläufer der Kunst im Tierreich geben muß, will ich zunächst daran erin­nern, daß sich unser Weg erst vor rund sieben Millionen Jahren von dem unserer nächsten lebenden Verwandten, der Schimpansen, trennte. Mag dieser Zeitraum auch nach menschlichen Maßstäben als sehr lang erscheinen, so stellt er doch in Wahrheit nur knapp ein Prozent der Geschichte höherer Lebensformen auf der Erde dar. Im­mer noch gleichen sich die Erbanlagen von Mensch und Schimpanse zu über 98 Prozent. Die Kunst und jene an­deren Merkmale, die wir für Besonderheiten des Men­schen halten, müssen auf einen winzigen Bruchteil un­serer Gene zurückzuführen sein. Nach den Maßstäben der Evolution liegt ihre Entstehung erst wenige Augen­blicke zurück.
    Moderne Verhaltensstudien an Tieren haben die Li­ste der Eigenschaften, die man einst dem Menschen vor­behalten glaubte, so weit zusammenschrumpfen lassen, daß die meisten Unterschiede zwischen uns und den so­genannten

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