Der Dritte Zwilling.
Washington Post . Ich glaube nicht, daß ich in einer solchen Welt leben möchte. Angenommen, das Volk besteht nur noch aus aggressiven, gehorsamen Soldaten - wer schreibt denn dann die Gedichte, wer spielt noch Blues, wer geht noch auf Friedensdemonstrationen?«
Jeannie hob die Brauen - aus dem Mund eines Berufssoldaten klangen diese Worte sehr überraschend. »Es ist nicht nur das«, sagte sie. »Die menschliche Vielfalt hat durchaus ihren Sinn. Es gibt durchaus einen logischen Grund dafür, daß wir nicht als identische Kopie unserer Eltern auf die Welt kommen. Die Evolution funktioniert nach dem Prinzip ›Versuch und Irrtum‹«. Sie können die Fehler der Natur nicht eliminieren, ohne gleichzeitig auch ihre Erfolge zu zerstören.«
Charles seufzte. »Unter dem Strich heißt das alles doch nichts weiter, als daß ich nicht Steves Vater bin.«
»Sagen Sie das nicht!«
Er öffnete seine Brieftasche und nahm ein Foto heraus. »Ich muß Ihnen etwas gestehen, Jeannie«, sagte er. »An Klone und dergleichen habe ich nie gedacht - aber es kam doch immer wieder vor, daß ich Steve angesehen und mich gefragt habe, ob er überhaupt irgendetwas von mir hat.«
»Können Sie das nicht sehen?« fragte Jeannie. »Ähnlichkeit, meinen Sie?«
»Nein, keine physische Ähnlichkeit. Aber Steve hat ein sehr aus geprägtes Pflichtgefühl. Die anderen drei Klone scheren sich einen Teufel um Pflicht und Verantwortung. Das hat er von Ihnen!«
Charles’ Miene hellte sich nicht auf. »Er hat durchaus seine schlechten Seiten, das weiß ich genau.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Jetzt hören Sie mir mal zu. Steve war ein - nun, sagen wir mal, ein wildes Kind, stimmt’s? Ungehorsam, impulsiv, furchtlos, ein Energiebündel …«
Charles lächelte traurig. »Ja, da haben Sie recht.«
»Genau wie Dennis Pinker und Wayne Stattner. Solche Kinder kann man nur sehr schwer erziehen. Deshalb ist Dennis zum Mörder geworden und Wayne zum Sadisten. Aber Steve ist anders - und das liegt an Ihnen! Nur sehr geduldige, verständnisvolle und opferbereite Eltern können solche Kinder zu normalen Menschen erziehen. Und Steve ist normal.«
»Gott geb’s, daß Sie recht haben.« Charles wollte das Foto wieder einstecken, doch Jeannie kam ihm zuvor.
»Darf ich es mal sehen?« fragte sie.
»Selbstverständlich.«
Jeannie betrachtete das Bild. Es war erst kürzlich aufgenommen worden. Steve trug ein blau kariertes Hemd, und sein Haar war ein bißchen zu lang. Verlegen grinste er in die Kamera. »Ich habe gar kein Foto von ihm«, sagte sie mit einem Unterton des Bedauerns, als sie Charles das Bild zurückgab.
»Behalten Sie’s.«
»Das geht doch nicht! Sie tragen es auf dem Herzen.«
»Ich hab’ unzählige Bilder von ihm. Ich stecke mir einfach ein anderes in die Brieftasche.«
»Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«
»Sie haben ihn offenbar recht gern.«
»Ich liebe ihn, Charles.«
»Wirklich?«
Jeannie nickte. »Wenn ich daran denke, daß er vielleicht ins Gefängnis muß, dann möchte ich mich am liebsten an seiner Statt einsperren lassen.«
Charles lächelte gequält. »Mir geht’s genauso.«
»Das ist doch Liebe, oder?«
»Ja, natürlich.«
Jeannie war auf einmal sehr befangen. Sie hatte Steves Vater das eigentlich nicht sagen wollen, ja, sie war sich dessen, wie es um sie stand, selbst noch gar nicht richtig bewußt gewesen. Doch dann war es ihr einfach so herausgerutscht, und ihr war schlagartig klar, daß jedes Wort der Wahrheit entsprach.
»Wie sieht Steve das denn?« fragte Charles.
Sie lächelte. »Na ja, um ehrlich zu sein …«
»Keine falsche Bescheidenheit!«
»Er ist verrückt nach mir.«
»Kein Wunder. Nicht nur, daß Sie eine sehr schöne Frau sind - Sie sind auch stark, das steht außer Zweifel. Er braucht eine starke Persönlichkeit an seiner Seite - vor allem auch angesichts der Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden.«
Jeannie musterte ihn kritisch. Jetzt mußte sie ihre Bitte vorbringen. »Wissen Sie, daß Sie etwas für mich tun könnten, Charles?«
»Um was geht es?«
Jeannie hatte sich im Wagen auf der Fahrt nach Washington genau zurechtgelegt, wie sie ihr Anliegen formulieren wollte. »Ich kann möglicherweise herausfinden, wer die Vergewaltigung begangen hat. Aber dazu muß ich an eine Datenbank heran, zu der ich keinen Zugang habe. Nach dem Bericht in der New York Times geht aber keine Behörde und keine Versicherungsgesellschaft mehr das Risiko ein, mit mir zusammenzuarbeiten.
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