Der Dritte Zwilling.
nicht, daß sie davon erfahren. Erst wenn meine Unschuld erwiesen ist.«
Jeannie runzelte die Stirn. »Nach allem, was Sie mir über Ihre Eltern erzählt haben, würden sie Ihnen helfen.«
»Das stimmt. Aber ich will ihnen den Schmerz ersparen.«
»Natürlich wäre es schmerzlich für Ihre Eltern. Aber vielleicht wäre es ihnen lieber, wenn sie Bescheid wüßten, damit sie Ihnen helfen könnten.«
»Nein. Bitte, rufen Sie meine Eltern nicht an.« Jeannie zuckte die Achseln. Irgend etwas verschwieg er ihr. Doch es war seine Entscheidung. »Jeannie … wie ist er so?«
»Dennis? Äußerlich ist er genau wie Sie.«
»Hat er langes Haar? Kurzes Haar? Einen Schnauzer? Schmutzige Fingernägel? Pickel?«
»Er trägt sein Haar so kurz wie Sie, hat keinen Bart, seine Hände sind sauber, und seine Haut ist rein. Er könnte Sie sein.«
»Mein Gott!« stieß Steve fassungslos hervor.
»Der große Unterschied zwischen Ihnen beiden liegt im Bezug zur Umwelt. Dennis weiß nicht, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhalten muß.«
»Das ist sehr eigenartig.«
»Das finde ich nicht. Es bestätigt sogar meine Theorie. Sie beide waren ›wilde Kinder‹, wie ich es nenne. Diesen Begriff habe ich aus einem französischen Film gestohlen. Ich benutze ihn, um einen bestimmten Typ von Kindern zu bestimmen. Furchtlose, unkontrollierbare, hyperaktive Kinder. Bei solchen Kindern ist die Sozialisierung sehr schwierig. Im Fall von Dennis haben Charlotte Pinker und ihr Mann es nicht geschafft. Ihre Eltern hingegen hatten Erfolg.«
»Aber unter der Oberfläche«, erwiderte Steve, noch immer er schüttert, »sind Dennis und ich dieselben Menschen.«
»Sie beide wurden als wilde Kinder geboren.«
»Nur, daß ich eine dünne Politur Zivilisiertheit besitze.« Jeannie erkannte, daß Steven zutiefst betroffen war. »Weshalb macht Ihnen das so sehr zu schaffen?«
»Ich möchte mich als menschliches Wesen betrachten, nicht als dressierten Gorilla.«
Trotz seines verzweifelten Gesichtsausdrucks mußte Jeannie lachen. »Auch Gorillas müssen die soziale Anpassung lernen. Das gilt für alle Tiere, die in Gruppen leben. Das ist der Ursprung des Verbre chens.«
Steve blickte sie interessiert an. »Das Leben in Gruppen?«
»Ja, sicher. Ein Verbrechen ist der Verstoß gegen eine grund legende soziale Regel. Bei Bären kommt es vor, daß einer die Höhle eines Artgenossen verwüstet, daß er die Nahrung raubt und die Jungen tötet. Bei Wölfen geschieht so etwas nicht, sonst könnten sie nicht in Rudeln leben. Wölfe sind monogam, sie kümmern sich um die Jungen der anderen Mitglieder des Rudels, und sie achten den persönlichen Freiraum der anderen. Falls ein Individuum gegen diese Regeln ver stößt, wird es bestraft; sollte es sich widersetzen, wird es entweder aus dem Rudel verstoßen oder getötet.«
»Und was ist mit den weniger wichtigen sozialen Regeln?«
»Wenn jemand in einem Aufzug furzt, zum Beispiel? Das sind bloß schlechte Manieren. Die einzige Bestrafung ist die Mißbilligung der anderen. Erstaunlich, wie wirksam dieser Mechanismus ist.«
»Warum interessieren Sie sich so sehr für Menschen, die gegen die Regeln verstoßen?«
Jeannie dachte an ihren Vater. Sie wußte nicht, ob sie seine kriminellen Erbanlagen besaß oder nicht. Vielleicht hätte es Steven geholfen, wenn er gewußt hätte, daß auch Jeannie der Gedanke an ihr genetisches Erbe zu schaffen machte.
Doch was ihren Vater betraf, hatte Jeannie so lange gelogen, daß es ihr schwerfiel, nun über ihn zu reden. »Die Frage der Vererbung von Kriminalität ist ein faszinierendes wissenschaftliches Problem«, erwiderte sie ausweichend. »Jeder interessiert sich für Verbrechen.«
Hinter ihr wurde die Tür geöffnet, und die junge Polizistin schaute in die Kammer. »Die Zeit ist um, Dr. Ferrami.«
»Okay«, sagte Jeannie über die Schulter. »Steve, wußten Sie, daß Lisa Hoxton meine beste Freundin in Baltimore ist?«
»Nein.«
»Wir arbeiten zusammen. Lisa ist Technikerin.«
»Wie ist sie denn so?«
»Sie gehört nicht zu den Menschen, die jemanden grundlos eines Verbrechens beschuldigen würden.«
Steven nickte.
»Trotzdem sollen Sie wissen, daß ich an Ihre Unschuld glaube.«
Für einen Moment glaubte Jeannie, Steven würde in Tränen aus brechen.
»Danke«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel mir das bedeutet.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie entlassen werden.« Sie nannte ihm ihre Telefonnummer.
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