Der Dschungel
im Licht des rußenden Gasstrumpfes Marija, die ihm am nächsten saß, langsam den Kopf schütteln. »Noch nicht«, sagte sie.
»Immer noch nicht?« rief Jurgis entsetzt.
Marija schüttelte abermals den Kopf.
Der arme Kerl stand da wie versteinert. »Ich ... ich höre sie nicht«, stammelte er.
»Sie ist schon lange still«, erwiderte Marija.
Wieder folgte eine Pause – die dann plötzlich durch eine vom Dachboden kommende Stimme unterbrochen wurde: »He, ihr da unten!«
Mehrere der Frauen liefen nach nebenan, Marija aber sprang auf Jurgis zu. »Warte hier!« rief sie, und die beiden standen da, bleich und zitternd, und lauschten.
Nach ein paar Minuten wurde deutlich, daß Madame Haupt beim Runtersteigen war, wobei sie wieder brabbelte und schimpfte, während die Leiter protestierend knarrte. Bald darauf war sie unten angelangt, und sie hörten sie hereinkommen. Als Jurgis sie erblickte, wurde er noch blasser und begann zu taumeln. Sie hatte die Jacke ausgezogen, ganz wie die Arbeiter in den Schlachthallen. Ihre Hände und Arme waren blutbeschmiert, und auch im Gesicht und auf der Kleidung hatte sie Blutspritzer. Nach Luft ringend, stand sie da und sah in die Runde.
Niemand sprach ein Wort.
»Ich habe mein Bestes getan«, begann sie plötzlich. »Weiter kann ich nichts machen – da ist Hopfen und Malz verloren.«
Noch immer sagte keiner etwas.
»Meine Schuld ist es jedenfalls nicht«, fuhr sie fort. »Ihr hättet einen Arzt holen müssen und nicht so lange warten dürfen – es war sowieso schon zu spät, als ich kam.«
Es herrschte erneut Totenstille. Marija hielt Jurgis mit aller Kraft ihres gesunden Arms fest.
Dann wandte sich Madame Haupt unvermittelt an Aniele. »Haben Sie nichts zu trinken da?« fragte sie. »Brandy oder so?«
Aniele schüttelte den Kopf.
»Herrgott«, rief Madame Haupt. »Was für Leute! Aber was zu essen werdet ihr doch für mich haben, oder etwa auch nicht? Mir knurrt schon seit gestern abend der Magen, und ich habe mich ja fast totgeschuftet. Wenn ich gewußt hätte, wie das hier ist, wäre ich für das bißchen, das ihr mir zahlt, nie und nimmer gekommen.«
In diesem Augenblick sah sie sich zufällig um und erblickte Jurgis. Sie drohte ihm mit dem Finger. »Damit das klar ist«, sagte sie, »mein Geld kriege ich trotzdem von Ihnen! Es ist schließlich nicht meine Schuld, wenn Sie mich so spät holen, daß ich Ihrer Frau nicht mehr helfen kann. Ich kann nichts dafür, daß das Kind mit dem einen Arm zuerst gekommen ist, so daß ich es nicht retten konnte. Ich habe es die ganze Nacht lang versucht, und das da oben, wo man nicht einmal eine Hündin werfen lassen würde. Und mit nichts weiter zu essen als dem, was ich selber mitgebracht habe.«
Sie machte eine Pause, um Atem zu holen, und Marija, die die Schweißperlen auf Jurgis’ Stirn sah und spürte, wie er am ganzen Leibe zitterte, fragte leise: »Was ist mit Ona?«
»Was kann schon mit ihr sein«, gab Madame Haupt zurück, »wenn ihr sie sich so zu Tode quälen laßt? Das habe ich bereits vorhin denen da gesagt, als sie den Priester holen gingen. Sie ist jung und wäre vielleicht durchgekommen und wieder gesund geworden, wenn sie die richtige Behandlung gehabt hätte. Hat tapfer gekämpft, das Mädel – sie ist noch nicht ganz tot.«
»Tot?« schrie Jurgis wie wahnsinnig.
»Selbstredend geht sie drauf«, sagte Madame Haupt unwirsch. »Das Baby ist schon hinüber.«
Der Dachboden wurde von einer auf ein Brett geklebten Kerze schwach erhellt; schon fast niedergebrannt, flackerte und blakte sie, als Jurgis die Leiter hinaufhastete. In dem trüben Licht konnte er in einer Ecke auf dem Boden ein aus Lumpen und alten Decken bereitetes Lager erkennen; am Fußende stand ein Kruzifix, und daneben murmelte ein Priester ein Gebet. Irgendwo ganz hinten hockte wimmernd und wehklagend Elzbieta. Auf dem Lumpenhaufen lag Ona.
Es war eine Decke über sie gebreitet, doch er konnte ihre Schulter sehen und den einen nackten Arm. Sie war so abgezehrt, daß er sie kaum erkannt hätte – nur noch Haut und Knochen und totenbleich. Ihre Lider waren geschlossen, und sie lag ganz still. Er wankte zu ihr hin und fiel mit einem Angstschrei auf die Knie. »Ona! Ona!«
Sie rührte sich nicht. Er nahm ihre Hand in die seine, drückte sie krampfhaft und rief: »Sieh mich an! Antworte mir doch! Ich bin wieder da, ich, Jurgis – hörst du mich nicht?«
Ihre Lider zuckten kaum merklich, und er rief von neuem wie rasend: »Ona! Ona!«
Dann
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