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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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der weiterlebt, wenn er in der Mitte durchgeschnitten worden ist, war wie die Henne, die, nachdem man ihr ein Küken nach dem anderen weggenommen hat, eben das letzte bemuttert, das ihr noch geblieben ist. Sie tat das einfach aus ihrer Natur heraus
    – fragte weder, ob es denn auch gerecht sei, noch ob dieses Leben überhaupt lohne, in dem Vernichtung und Tod so wüteten.
    Zu dieser vom gesunden Menschenverstand bestimmten Einstellung suchte sie auch ihren Schwiegersohn zu bringen. Unermüdlich redete sie auf ihn ein: Ona sei tot, aber die anderen wären noch da und müßten gerettet werden. Sie bitte nicht wegen ihrer Kinder; die würde sie gemeinsam mit Marija schon irgendwie durchbringen. Aber es gehe um Antanas, seinen eigenen Sohn. Ona habe ihm den geschenkt – der Kleine sei die einzige Erinnerung an sie, die er hat, und die müsse er hegen und schützen. Er wüßte doch, was Ona von ihm erwarten, worum sie ihn in diesem Augenblick bitten würde, wenn sie mit ihm reden könnte. Es sei furchtbar, daß sie hat sterben müssen, aber das Leben wäre einfach zu hart für sie gewesen. Schrecklich auch, daß er nicht einmal einen Tag Zeit haben soll, sie zu betrauern, doch es gehe nun mal nicht anders. Ihre Lage dränge; sie hätten keinen Cent mehr, und die Kinder würden verhungern – es müsse unbedingt Geld herangeschafft werden. Könne er sich denn nicht um Onas willen zusammenreißen und sich als Mann erweisen? Eine kleine Weile noch, dann wären sie außer Gefahr – jetzt, ohne die Belastung mit dem Haus, ließe sich billiger leben, und da die Kinder ja alle arbeiten, könnten sie zurechtkommen, wenn nur er nicht versagt. So fuhr Elzbieta mit fieberhafter Eindringlichkeit fort. Bei ihr ging es um Leben und Tod; nicht daß sie befürchtete, Jurgis würde mit dem Trinken weitermachen, denn dazu fehlte ihm das Geld, aber sie hatte wahnsinnige Angst, er könne die Familie verlassen, könne so wie Jonas auf die Walze gehen.
    Doch am Totenbett seiner Frau war es Jurgis natürlich nicht möglich, an Verrat an seinem Kind zu denken. Ja, sagte er, um Antanas’ willen wolle er es versuchen. Der Kleine solle seine Chance bekommen – er werde sofort anfangen, gleich morgen, ohne Onas Beerdigung abzuwarten. Sie könnten sich auf ihn verlassen, er werde Wort halten, komme, was wolle.
    Und so zog Jurgis dann am nächsten Tag noch vor dem Hellwerden los, trotz Kopfschmerzen, Herzeleid und allem. Er ging geradewegs zu Durhams Düngerfabrik, um zu sehen, ob er seinen alten Arbeitsplatz wiederbekommen könne. Doch der Aufseher in der Mahlhalle schüttelte den Kopf: Nein, seine Stelle sei inzwischen längst besetzt, und etwas anderes habe man für ihn nicht.
    »Besteht denn Aussicht, daß mal was frei wird?« fragte Jurgis. »Selbst wenn ich warten müßte ...«
    »Nein«, bekam er zur Antwort, »das wäre Zeitverschwendung – für Sie ist hier nichts mehr drin.«
    Jurgis starrte den Aufseher konsterniert an. »Was ist denn? Habe ich meine Arbeit nicht gut genug gemacht?«
    Der andere begegnete seinem Blick mit kalter Gleichgültigkeit. »Für Sie ist hier nichts mehr drin, sag ich.«
    In Jurgis stieg der Verdacht auf, daß da irgend etwas hinterstecken müsse, und er schob mit hängendem Kopf ab. Er reihte sich in die Menge der armen Teufel ein, die vor der Zeitkontrolle im Schnee herumstanden. Dort blieb er, ohne Frühstück, zwei Stunden, bis sie alle von den Knüppeln der Polizei vertrieben wurden. Arbeit fand er an diesem Tag nicht.
    In der langen Zeit, die er in den Yards gearbeitet hatte, war Jurgis mit vielen Leuten bekannt geworden: mit Kneipenwirten, bei denen er einen Whiskey und ein Sandwich auf Anschreiben bekommen konnte, und mit Mitgliedern seiner alten Gewerkschaft, die ihm notfalls mit ein paar Cents aushalfen. Es war für ihn also keine Frage des Verhungerns; er konnte heute den ganzen Tag nach Arbeit suchen und morgen wieder und sich so wochenlang durchschlagen, wie Hunderte, ja Tausende andere auch. Derweilen ging Elzbieta drüben im Hyde-Park-Viertel betteln, und die Kinder würden schon genug nach Hause bringen, um Aniele zu befriedigen und sie alle am Leben zu erhalten.
    Nach einer Woche solchen Wartens, also Herumlaufens in eiskaltem Wind oder Herumsitzens in Kneipen, stieß Jurgis in einem der Keller von Jones’ großer Fleischfabrik endlich auf eine Chance. Er sah einen Vorarbeiter an der offenen Tür vorbeigehen und sprach ihn sofort um Arbeit an.
    »Karren schieben?« fragte der Mann, und noch

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