Der Dschungel
sie in einen Kiefernsarg legen und auf den Armenfriedhof bringen; Elzbieta sei gerade unterwegs, von den Nachbarn ein paar Cents zusammenzubetteln, damit man für Ona eine Messe bezahlen kann, und die Kinder wären oben und am Verhungern, während er, der nichtsnutzige Haderlump, ihr Geld versoffen habe! So räsonnierte Aniele, und als er ans Herdfeuer wollte, fügte sie hinzu, sie lasse sich ihre Küche nicht länger mit seinem Düngergestank verpesten. Onas wegen habe sie all ihre Schlafburschen in einen einzigen Raum zusammengepfercht, jetzt aber möge er sich gefälligst auf den Dachboden verziehen, wo er hingehört – und das auch nicht mehr für lange, sofern er ihr nicht bald mal Miete zahlt.
Jurgis ging ohne ein Wort, und nachdem er im nächsten Zimmer über ein halbes Dutzend schlafende Untermieter gestiegen war, kletterte er die Leiter hinauf. Oben war es dunkel – eine Kerze konnten sie sich nicht leisten – und außerdem fast so kalt wie draußen. In einer Ecke, so weit von dem Leichnam weg wie möglich, saß Marija; sie hatte Antanas auf dem gesunden Arm und suchte ihn in Schlaf zu wiegen. In einer anderen Ecke hockte der kleine Juozapas und wimmerte, weil er den ganzen Tag nichts zu essen bekommen hatte. Marija sagte kein Wort zu Jurgis. Wie ein geprügelter Hund schlich er herein und setzte sich zu der Toten.
Vielleicht wäre es richtiger gewesen, über den Hunger der Kinder und über seine eigene Schlechtigkeit nachzudenken, doch er dachte nur an Ona, gab sich wieder dem Luxus seines Schmerzes hin. Er vergoß keine Tränen, da er sich schämte, das hören zu lassen; reglos saß er da und zitterte vor Qual. Wie sehr er Ona geliebt hatte, wurde ihm erst jetzt richtig klar – jetzt, da sie tot war, jetzt, da er hier saß und wußte, daß man sie morgen früh abholen und er sie nie mehr sehen würde, niemals mehr solange er lebte. Die alte Liebe, verhungert und zu Tode geprügelt, erwachte von neuem in ihm; die Schleusen der Erinnerung hoben sich: Er sah ihr ganzes gemeinsames Leben, sah Ona, wie er sie zum ersten Mal erblickt hatte, damals auf dem Pferdemarkt in Litauen, schön wie eine Blume, zwitschernd wie ein Vogel. Er sah, wie er sie geheiratet hatte, mit all ihrer Zärtlichkeit, ihrem Herzen voller Staunen; die Worte, die sie gesprochen, schienen in seinen Ohren zu klingen, die Tränen, die sie geweint, seine Wange zu benetzen. Ihn hatte der lange mörderische Kampf gegen Not und Elend verbittert und verhärtet, sie aber hatte er nicht verändert – sie war bis zuletzt dieselbe hungrige Seele geblieben, bittend, ja bettelnd um Liebe und Zärtlichkeit. Und wie hatte sie gelitten, was für grausame Seelenpein, was für schreckliche Gemeinheiten erleiden müssen – o Gott, die Erinnerung daran war nicht zu ertragen! Welch gefühlloser Unmensch war er gewesen! Jedes böse Wort, das er jemals zu ihr gesagt hatte, kam zurückgehallt und schnitt ihm wie ein Messer ins Herz; jedes eigensüchtige Verhalten, das er an den Tag gelegt hatte – mit was für Folterqualen zahlte er nun dafür! Und welche Hingabe und Verehrung wogten in ihm hoch, jetzt, da sie sich nicht mehr sagen ließen, jetzt, da es zu spät war! Es würgte ihn, sprengte ihm die Brust; er kauerte hier im Dunkeln an ihrer Seite, streckte die Arme nach ihr aus, doch sie hatte ihn verlassen, für immer, war dahingegangen! Vor Entsetzen und Verzweiflung hätte er laut schreien mögen; kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, doch er wagte keinen Laut von sich zu geben, getraute sich vor lauter Scham und Abscheu vor sich selbst kaum zu atmen.
Am späten Abend kam Elzbieta zurück; sie hatte das Geld für die Messe bekommen und diese gleich im voraus bezahlt, damit sie daheim nicht zu sehr in Versuchung geraten konnte. Sie brachte auch einen Kanten altes Roggenbrot mit, den ihr jemand geschenkt hatte und mit dem sie nun die Kinder beruhigte, so daß sie endlich einschliefen. Dann kam Elzbieta herüber zu Jurgis und setzte sich neben ihn.
Sie ließ kein Wort des Vorwurfs laut werden; sie und Marija hatten das vorher so abgesprochen. Sie wollte nur vernünftig mit ihm reden, hier am Totenbett seiner Frau. Elzbieta hatte ihre Tränen bereits erstickt; ihr Gram war durch die Angst verdrängt. Sie mußte eines ihrer Kinder zu Grabe tragen – aber das hatte sie schon dreimal tun müssen, und jedesmal war sie wieder aufgestanden, um für die übrigen weiterzukämpfen. Elzbieta gehörte zu den primitiven Geschöpfen; sie war wie der Regenwurm,
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