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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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öffneten sich plötzlich ihre Augen – eine Sekunde nur. Eine Sekunde lang blickte sie ihn an – Erkennen blitzte zwischen ihnen auf, wie durch einen Nebel sah er sie in weiter Ferne dastehen, einsam und verloren. Er streckte die Arme nach ihr aus, rief in wilder Verzweiflung ihren Namen; schreckliche Sehnsucht wallte in ihm hoch, ein qualvolles Verlangen nach ihr, ein ganz neuer Hunger, der ihn marterte und ihm das Herz zerriß. Aber es war alles vergebens – sie wurde immer undeutlicher, glitt dann zurück und war weg. Da brach ein Qualensschrei aus ihm hervor, heftige Schluchzer erschütterten seinen ganzen Körper, heiße Tränen rannen ihm über die Wangen und fielen auf Ona nieder. Er ergriff ihre Hände, er rüttelte sie, er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich, doch sie blieb still und kalt – sie war hinübergegangen ... Sie war tot!
    Das Wort dröhnte in ihm wie das Läuten einer Glocke, hallte bis in seine tiefsten Tiefen hinein, brachte vergessene Saiten zum Schwingen, weckte dunkle Urängste – vor dem Dunkel, vor der Leere, vor dem Ausgelöschtwerden. Sie war tot! Tot ! Er würde sie nie wieder sehen, nie wieder hören! Eisiges Grauen vor der Einsamkeit ergriff ihn; er sah sich abseits stehen und zuschauen, wie die ganze Welt vor ihm dahinschwand – eine Welt der Schemen, der unbeständigen Träume. In seiner Angst und seinem Kummer war er wie ein kleines Kind; er rief und rief und erhielt keine Antwort, und seine durch das Haus schallenden Verzweiflungsschreie ließen die Frauen unten vor Furcht dichter aneinanderrücken. Er war untröstlich, gar nicht mehr ganz bei sich. Der Priester trat zu ihm heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas zu, aber Jurgis hörte seine Worte nicht. Auch er war weg, weit weg – er irrte im Schattenreich umher und suchte nach der entwichenen Seele.
     
    So blieb er liegen. Langsam zog der Morgen herauf, und sein Grau kam in den Dachboden gekrochen. Der Priester ging, die Frauen ebenfalls, und Jurgis war allein mit der weißen Gestalt – ruhiger jetzt, aber immer noch stöhnend und zitternd im Ringen mit dem grausigen Widersacher. Ab und an richtete er sich hoch, starrte die weiße Maske vor sich an und hielt sich dann die Augen zu, weil er es nicht ertragen konnte. Tot! Tot ! Und sie war doch noch so jung, gerade erst achtzehn! Ihr Leben hatte ja kaum begonnen – und nun lag sie hier, ermordet, zerfleischt, zu Tode gequält!
    Es war schon hell, als er aufstand und in die Küche hinunterging, hager und aschfahl, taumelnd und ganz benommen. Es waren weitere Nachbarn gekommen; schweigend starrten sie ihn an, als er sich auf einen am Tisch stehenden Stuhl fallen ließ und das Gesicht in den Armen vergrub.
    Ein paar Minuten später ging die Haustür auf. Ein Hauch von Kälte und Schnee wehte herein, und dahinter kam die kleine Kotrina, vom Laufen noch außer Atem und ganz blaugefroren. »Ich bin wieder da!« rief sie. »Ich konnte kaum ...«
    Als sie plötzlich Jurgis erblickte, hielt sie mit einem Aufschrei inne. Sie sah von einem zum anderen, merkte, daß etwas geschehen war, und sagte mit leiserer Stimme: »Was ist los?«
    Ehe jemand antworten konnte, sprang Jurgis auf. Mit unsicheren Schritten ging er auf sie zu. »Wo warst du?« fragte er.
    »Zeitungen verkaufen, zusammen mit den Jungs«, sagte sie. »Der Schnee ...«
    »Bringst du Geld?«
    »Ja.«
    »Wieviel?«
    »Fast drei Dollar, Jurgis.«
    »Gib sie her.«
    Verängstigt durch sein Gebaren, blickte Kotrina die anderen an. »Gib sie her!« befahl er wieder, worauf sie in ihre Tasche griff und eine in einen Stoffetzen eingeknotete Handvoll Münzen zum Vorschein brachte. Jurgis nahm diese ohne ein Wort, ging zur Tür hinaus und lief die Straße hinunter.
    Drei Häuser weiter war eine Kneipe. »Whiskey«, sagte er, als er eintrat, und nachdem der Wirt ihm welchen hingeschoben hatte, zog er den Knoten in dem Tuch mit den Zähnen auf und nahm einen halben Dollar heraus. »Was kostet die ganze Flasche?« sagte er. »Ich will mich betrinken.«

20
    Aber ein Hüne kann von drei Dollar nicht sehr lange betrunken bleiben. Am Sonntagmorgen war Jurgis weggegangen, und am Montagabend kam er nach Hause, ausgenüchtert, hundeelend und sich bewußt, daß er alles Geld, das die Familie besaß, durch die Kehle gejagt und sich damit doch keinen einzigen Augenblick Vergessen erkauft hatte.
    Ona sei noch nicht begraben, aber sie hätten es bei der Polizei gemeldet, und morgen würde man kommen,

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