Der Dschungel
einen Mann bedeutete, der jahrelang im selben Elendsviertel eingepfercht gewesen war und stets bloß den trostlosen Ausblick auf Armeleutehäuser und Fabriken gehabt hatte, nun auf einmal unter dem weiten Himmel freigelassen zu sein und stündlich neue Landschaften, neue Orte und andere Menschen zu sehen. Für einen Mann, dessen Leben daraus bestanden hatte, den ganzen Tag ein und dieselbe Tätigkeit zu verrichten, bis er so erschöpft war, daß er sich nur noch hinlegen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen konnte – und der jetzt sein eigener Herr war, der arbeiten konnte, wie und wann es ihm beliebte, und einem neuen Erlebnis nach dem andern entgegensehen durfte.
Auch seine Gesundheit gewann er zurück, all seine Jugendfrische, seinen Elan und seinen Frohsinn, denen er nachgetrauert und die er vergessen hatte! Plötzlich kam das alles wieder, überraschend und verwirrend; es war, als wäre seine erloschene Kindheit erneut lebendig geworden, als lache und locke sie. Er hatte satt zu essen, frische Luft und Bewegung, so viel er wollte, und wenn er aus dem Schlaf erwachte, marschierte er los, ohne zu wissen, wohin mit seiner Kraft; er reckte die Arme, lachte und sang alte Lieder aus der Heimat, die ihm wieder einfielen. Ab und zu mußte er freilich an den kleinen Antanas denken, den er nie mehr sehen, dessen Stimmchen er nie mehr hören sollte, und dann hatte er schwer mit sich zu ringen. Nachts erwachte er manchmal aus Träumen von Ona, streckte die Arme nach ihr aus und netzte den Boden mit seinen Tränen. Aber wenn er am Morgen dann aufstand, schüttelte er das von sich ab und zog weiter aus, den Kampf mit der Welt zu bestehen.
Er fragte nie danach, wo er sei oder wohin die Straße führe; er wußte, daß das Land groß genug war und er nicht zu befürchten brauchte, an sein Ende zu kommen. Und natürlich konnte er, wenn ihm danach war, jederzeit Gesellschaft haben, denn überall, wo er hinkam, gab es Männer, die genauso lebten wie er und denen er sich anschließen durfte. Sie waren nicht abweisend gegen Neue in dem Metier, und sie brachten ihm all ihre Schliche bei: welche Kleinstädte und Dörfer man besser mied, was die Geheimzeichen an den Zäunen bedeuteten, wann man betteln und wann man stehlen mußte und wie man beides anstellte. Sie lachten ihn aus, daß er immer mit Geld oder Arbeit zahlen wollte – sie verschafften sich alles, was sie brauchten, ohne Gegenleistung. Ab und zu kampierte Jurgis mit einer Gruppe von ihnen in einem Schlupfwinkel im Wald, und nachts zogen sie gemeinschaftlich in der Umgebung auf Beute aus. Manchmal kam er sich mit dem einen oder anderen näher, und dann wanderten sie zu zweit weiter, blieben eine Woche zusammen und tauschten Erinnerungen aus.
Unter diesen berufsmäßigen Tramps befanden sich natürlich auch welche, die seit jeher ein arbeitsscheues und lasterhaftes Leben geführt hatten. Die meisten aber waren vorher Arbeiter gewesen, hatten den gleichen langen Kampf wie Jurgis gefochten und ihn dann aufgegeben, als sie merkten, daß sie doch nur immer die Unterlegenen sein würden. Später begegnete er noch einem anderen Typ, aus dem sich die Tramps rekrutierten: Männer, die zwar ständig unterwegs, aber auch ständig auf der Suche nach Arbeit waren, nämlich auf den Erntefeldern. Von diesen Wanderarbeitern gab es ein ganzes Heer: die riesige Arbeitskräfte-Reservearmee der Gesellschaft, nach unerbittlichem Naturgesetz ins Leben gerufen, um in der Welt die Gelegenheitsarbeiten zu verrichten, die nur zeitweilig und unregelmäßig anfallen, aber trotzdem getan werden müssen. Natürlich war ihnen das alles gar nicht klar; sie wußten nur, daß sie Arbeit suchten und daß es die stets nur für kurze Zeit gab. Im Frühsommer waren sie in Texas zu finden, und mit den reifenden Feldfrüchten wanderten sie immer weiter nach Norden, bis sie im Herbst schließlich in Manitoba angelangt waren. Dann suchten sie die großen Holzfäller-Camps auf, wo man auch im Winter Arbeit bekommen konnte; hatten sie dort kein Glück, drifteten sie in die Großstädte und lebten von dem, was sie sich hatten sparen können, und von Gelegenheitsarbeiten, wie sie dort zu haben waren: Be- und Entladen von Lastdampfern und Rollwagen, Ausschachten von Gräben und Schneeschippen. Überstieg ihre Zahl den Bedarf, kamen, gleichfalls gemäß unerbittlichem Naturgesetz, die Schwächeren durch Hunger und Kälte um.
Ende Juli war Jurgis in Missouri, und dort lernte er den Erntebetrieb kennen. Hier
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