Der Dschungel
lange in ihm geschlummert hatte, ohne das ihm das bewußt gewesen war, erwachte zu plötzlichem Leben. Jurgis lief los, die Gleise entlang, und nachdem er am Schrankenwärterhäuschen vorbei war, nahm er Anlauf und schwang sich auf einen der Waggons.
Als der Zug nach einiger Zeit hielt, sprang Jurgis ab, lief rasch unter den Wagen und versteckte sich auf dem hohen Drehgestell der vorderen Doppelachse. Dort hockte er und focht, während der Zug wieder weiterfuhr, einen Kampf mit sich aus. Er preßte die Hände zusammen und biß die Zähne aufeinander: Er habe bisher nicht geweint, und er werde auch jetzt nicht weinen, nicht eine Träne! Es sei aus und vorbei, er wär damit fertig – abschütteln wolle er alles Gewesene, sich ein für allemal davon befreien, jetzt, heute nacht; wie ein scheußlicher düsterer Alptraum solle es vergehen, morgen werde er ein neuer Mensch sein. Und jedesmal wenn ihn wieder ein Gedanke daran überfiel – eine zärtliche Erinnerung, der Anflug einer Träne –, zwang er sich zum Zorn und kämpfte ihn nieder.
Dieses Ringen verlangte all seine Kraft; in seiner Verzweiflung knirschte er mit den Zähnen. Ein Narr sei er gewesen, jawohl, ein Narr! Mit dieser verdammten Schwäche habe er sein Leben verpfuscht, sich zugrunde gerichtet, aber jetzt sei Schluß damit – er werde sie mit Stumpf und Stiel aus sich herausreißen! Keine Tränen mehr und keine Weichheit, davon habe er genug gehabt – sie hätten ihn zum Sklaven gemacht! Jetzt wolle er frei sein, seine Fesseln abschütteln, aufstehen und seine Ellbogen gebrauchen. Er sei froh, daß es zu Ende gegangen ist; es wäre doch einmal so gekommen – dann schon lieber gleich. Dies sei keine Welt für Frauen und Kinder, und je eher sie daraus scheiden, um so besser für sie. Was immer Antanas dort auch auszustehen habe, wo er jetzt weilt – schlimmer als das, was er auf Erden noch hätte erleiden müssen, könne es nicht sein. Und dies sei nun das letzte Mal, daß sein Vater an ihn denkt – von jetzt an wolle er nur noch an sich denken, nur noch für sich selber kämpfen, gegen die Welt, die ihm so viele Knüppel zwischen die Beine geworfen und ihn so gepeinigt hat!
So riß er weiter alle Blumen aus dem Garten seiner Seele heraus und zertrat sie unter dem Absatz. Die Waggons ratterten ohrenbetäubend, und Wolken von Staub wehten ihm ins Gesicht; aber obwohl der Zug im Lauf der Nacht mehrmals hielt, blieb Jurgis, wo er war – fest entschlossen, diesen Platz nicht eher zu verlassen, als bis er weit fort war, denn jede Meile, die er zwischen sich und Packingtown legte, bedeutete eine Last weniger auf der Seele.
Bei jedem Halt des Zuges wehte ihn ein warmer Wind an, ein Wind mit dem Duft von frischen Wiesen, von Geißblatt und Klee. Er sog die Luft ein, und sie ließ sein Herz stürmisch pochen – er war wieder auf dem Lande! Und würde vorerst hier auch bleiben! Als der Morgen dämmerte, spähte Jurgis mit hungrigen Augen hinaus, und erblickte Felder, Wälder und Flüsse. Schließlich hielt er es nicht länger aus, und beim nächsten Stoppen des Zuges kroch er aus seinem Versteck und stieg ab. Oben auf dem Waggon stand ein Bremser, der schimpfte und ihm mit der Faust drohte, aber Jurgis winkte ihm nur spöttisch zu und marschierte los ins Land hinein.
Sein ganzes Leben hatte er auf dem Lande verbracht – jetzt aber schon drei Jahre lang keinen ländlichen Anblick mehr gesehen und keine ländlichen Laute mehr gehört! Außer während seines Rückmarsches aus dem Gefängnis, wobei er jedoch zu sorgenerfüllt gewesen war, um überhaupt etwas wahrzunehmen, und bei den paar Malen, als er sich im Winter während seiner Arbeitslosigkeit in einem Stadtpark ausruhte, hatte er wahrhaftig keinen Baum zu Gesicht bekommen. Und so fühlte er sich jetzt wie ein Vogel vom Wind emporgehoben und davongetragen; immer wieder blieb er stehen und staunte alles an wie ein Wunder: eine Herde Kühe, eine Wiese voller Gänseblümchen, blühende Heckenrosenbüsche, kleine Vögel, die in den Bäumen sangen.
Nach einiger Zeit kam er an eine Farm, und nachdem er sich vorsichtshalber einen Knüppel gesucht hatte, ging er darauf zu. Der Farmer schmierte vor der Scheune einen Wagen, und Jurgis trat zu ihm hin.
»Bitte, ich hätte gern ein Frühstück«, sagte er.
»Wollen Sie arbeiten?« fragte der Farmer.
»Nein«, erwiderte Jurgis, »das nicht.«
»Dann können Sie hier auch nichts bekommen!« schnauzte der Mann.
»Ich wollte dafür ja bezahlen«, erklärte
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