Der Dschungel
hatten.
Jurgis dagegen konnte machen, was er wollte, er wurde sein Gewissen einfach nicht los. Es kam über ihn, wo er es am wenigsten erwartete, ja bisweilen trieb es ihn geradezu zum Trinken.
Eines Abends konnte er eines Gewitters wegen nicht weiter, und er suchte Zuflucht in einem Häuschen am Rande einer kleinen Stadt. Darin wohnte ein Arbeiter, der Slawe war wie er, erst vor kurzem aus Weißrußland eingewandert. Der Mann hieß Jurgis in seiner Muttersprache willkommen und lud ihn ein, sich ans Herdfeuer zu setzen und sich zu trocknen. Er habe zwar kein Bett für ihn, sagte er, aber auf dem Dachboden liege Stroh, und dort könne er sich ein Nachtquartier herrichten. Seine Frau bereitete gerade das Abendbrot, und die Kinder spielten auf dem Fußboden herum. Jurgis nahm Platz und tauschte mit dem Mann Gedanken über die Heimat aus und über die Orte, wo sie gewesen waren, und was für Arbeit sie gemacht hatten. Dann aßen sie, und hinterher saßen sie noch beisammen, rauchten und unterhielten sich weiter, jetzt über Amerika und wie sie es hier fänden. Mitten in einem Satz stockte Jurgis jedoch, denn er sah, daß die Frau eine große Wanne mit Wasser hereingebracht hatte und nun das jüngste Kind auszuziehen begann. Die anderen hätten sich schon in ihre Schlafkammer verzogen, das Baby aber müsse gebadet werden, erklärte der Vater. Die Nächte wären schon recht kühl gewesen, und da sich die Mutter mit dem Klima hierzulande noch nicht auskennt, hätte sie den Kleinen winterlich eingemummt, doch dann sei es wieder warm geworden, und da habe er irgendwelchen Ausschlag bekommen. Der Arzt sage, er muß nun jeden Abend gebadet werden, und sie sei so töricht, das zu glauben.
Jurgis hörte kaum zu; er beobachtete das Kind. Der Junge war etwa ein Jahr alt, ein stämmiger Bursche mit dicken, weichen Beinen, kugelrundem Bäuchlein und kohlschwarzen Augen. Seine Pusteln schienen ihn nicht zu beeinträchtigen; er freute sich wer weiß wie auf das Bad, strampelte und gluckste vergnügt, grabschte nach dem Gesicht seiner Mutter und dann nach seinen eigenen Zehen. Sie setzte ihn in die Wanne, und er saß selig lächelnd da, plantschte, spritzte Wasser über sich und quietschte vor Wonne. Er plapperte russisch, und das in der allerputzigsten Babysprache – jedes Wort brachte Jurgis, der ein wenig Russisch verstand, eines seines eigenen toten Söhnchens in Erinnerung und stach ihn wie ein Messer ins Herz. Er saß reglos und schweigend, preßte aber die Hände fest zusammen, während sich in seiner Brust ein Gewitter zusammenzog und sich hinter seinen Augen eine Flut staute. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, vergrub das Gesicht in den Händen und brach zur Verwunderung und Bestürzung seiner Gastgeber in Tränen aus. Weil er sich deswegen schämte und sein Schmerz einfach unerträglich wurde, stand er auf und stürzte hinaus in den Regen.
Er lief die Landstraße hinunter, immer weiter, bis er an einen dunklen Wald gelangte. Dort verkroch er sich und weinte sich das Herz aus dem Leibe. Ach, welche Qual bedeutete es, wenn die Gruft der Erinnerung sich auftat und die Geister seines alten Lebens herausgestiegen kamen, um ihn zu martern! Wie grauenhaft war es, zu sehen, wie er einmal gewesen war und nie wieder sein konnte – zu sehen, wie seine Frau, sein Kind und sein totes Ich die Arme nach ihm ausstreckten und über einen bodenlosen Abgrund hinweg nach ihm riefen – und zu wissen, daß sie auf ewig von ihm gegangen waren und er sich hier im Pfuhl seiner eigenen Verworfenheit wand und darin erstickte!
23
Schon früh im Herbst machte Jurgis sich wieder nach Chicago auf. Das Wanderleben verlor seines Reiz, sobald man sich im Heu nicht mehr warm halten konnte, und gleich vielen tausend anderen wiegte sich Jurgis in der Illusion, durch rechtzeitiges Eintreffen dem Massenansturm auf Arbeit zuvorzukommen. Versteckt in einem seiner Schuhe, trug er fünfzehn Dollar bei sich; die hatte er vor den Kneipenwirten gerettet, weniger aus Gewissensgründen als aus der Angst heraus, die ihn bei der Vorstellung befiel, im Winter in der Stadt arbeitslos zu sein.
Mit mehreren anderen zusammen reiste er per Güterzug; sie versteckten sich nachts in Waggons, immer in Gefahr, hinausgeworfen zu werden, auch wenn der Zug gerade Tempo drauf hatte. Nach der Ankunft in Chicago trennte Jurgis sich von seinen Gefährten, denn er hatte Geld und sie nicht, und er war entschlossen, sich in dem bevorstehenden Kampf zu behaupten. Er habe jetzt
Weitere Kostenlose Bücher