Der Dschungel
wäre ihnen alles recht, Hauptsache billig: sie seien ganz entsetzt, wieviel hier alles kostet. Die paar Tage praktischer Erfahrung in diesem Land der hohen Löhne hatten gereicht, ihnen die grausame Tatsache aufgehen zu lassen, daß es auch ein Land der hohen Preise ist und die Armen hier fast genauso arm sind wie in jeder anderen Ecke der Welt; Jurgis’ schöner Traum vom Reichwerden war über Nacht zerronnen. Die Entdeckung traf sie um so schmerzlicher, da sie die amerikanischen Preise ja mit Geld bezahlen mußten, das sie bloß zu den daheim üblichen Löhnen verdient hatten – sie fanden das regelrechten Betrug der Welt an ihnen! Die letzten beiden Tage, fuhr Teta Elzbieta fort, härten sie sich so gut wie nichts an Essen zu kaufen getraut, denn bei dem, was die Bahn dafür verlangt, sei ihnen schlecht geworden.
Als sie die Herberge der Witwe Jukniene dann aber sahen, konnten sie trotz allen nur noch schaudern. So schlimme Quartiere waren ihnen auf der ganzen Reise nicht vorgekommen. Ponia Aniele hatte eine einschließlich Küche aus vier Räumen bestehende Wohnung in dem trostlosen Holzhausviertel »hinter den Yards«. Diese einstöckigen Mietshäuser enthielten je vier solcher Wohnungen, und jede davon war ein »Logierhaus« für Ausländer – Litauer, Polen, Slowaken, Böhmen –, gewöhnlich vom Hauptmieter, manchmal aber auch als Wohngemeinschaft betrieben und immer total überbelegt. Im Schnitt hauste in jedem Zimmer ein halbes Dutzend Menschen, zuweilen waren es auch dreizehn oder vierzehn. Für ein Bett – bestehend aus bloßer Matratze und Zudecke – mußte jeder selber sorgen. Die Matratzen lagen in Reihen auf dem Fußboden, und sonst befand sich in dem Raum nichts weiter als ein Ofen. Es war keineswegs unüblich, daß zwei Männer eine Matratze gemeinsam besaßen; der eine arbeitete bei Tage und benutzte sie bei Nacht, der andere umgekehrt. Nicht selten wurden die Schlafstellen von vornherein schichtweise vermietet.
Mrs. Jukniene war früh gealtert und hatte ein so runzliges Gesicht, daß sie wie ein Hutzelweib aussah. In ihrer Wohnung herrschte unvorstellbarer Schmutz; durch die Vordertür konnte man der Matratzen wegen überhaupt nicht eintreten, und wollte man von hinten hinein, stellte man fest, daß sie den Großteil der überdachten Holzterrasse dort mit Brettern vernagelt hatte, um einen Verschlag für ihre Hühner zu schaffen. Bei den Untermietern war es ein stehender Witz, daß ihre Wirtin das Reinemachen erledige, indem sie die Hühner in die Zimmer läßt. Zweifellos wurde dadurch das Ungeziefer niedergehalten, aber angesichts der Verhältnisse war durchaus möglich, daß es Ponia Aniele mehr darum ging, die Hühner satt, als die Wohnung sauber zu kriegen. Tatsächlich hatte sie jeglichen Gedanken an Hausputz aufgegeben, seit sie einmal so von ihrem Rheuma geplagt worden war, daß sie über eine Woche lang ihr Zimmer nicht verlassen und nur vor Schmerzen zusammengekrümmt in einer Ecke kauern konnte, während welcher Zeit elf ihrer Schlafburschen mit hohem Mietrückstand plötzlich die Idee gefaßt hatten, lieber in Kansas City auf Arbeitsuche zu gehen. Es war Juli, und die Wiesen leuchteten grün. Hier in Packingtown – dem nach den »packing houses«, den Fleisch- und Konservenfabriken inoffiziell benannten Stadtviertel – gab es keine Wiesen, ja überhaupt nichts Grünes zu sehen, doch konnte man auf die »Walze« gehen, das heißt als Wanderarbeiter durchs weite Land »trampen« und zwischendurch auch mal eine Weile bummeln, sich als blinder Passagier auf Güterwagen ein freies Leben machen.
So sah also die Behausung aus, die die Ankömmlinge empfing. Etwas Besseres sei nicht zu haben, sagte man ihnen; bei weiterem Suchen würden sie wahrscheinlich nur schlechter fahren. Immerhin erbot sich Mrs. Jukniene, ihr für sich und ihre Kinder behaltenes Zimmer mit den Frauen und Mädchen der Familie zu teilen. Bettzeug könnten sie bei einem Trödler kaufen, erklärte sie, aber bei dem jetzigen Wetter brauchten sie gar keines – sicher würden sie in diesen warmen Nächten draußen auf dem Gehsteig schlafen, wie das fast all ihre Gäste tun. »Morgen«, sagte Jurgis, als sie allein waren, »morgen besorge ich mir Arbeit, und vielleicht kriegt auch Jonas welche, dann können wir uns eine eigene Wohnung nehmen.«
Am Spätnachmittag machten Jurgis und Ona dann einen Spaziergang, um mehr von diesem Viertel zu sehen, das ihre neue Heimat werden sollte. Hier hinter den Yards standen
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