Der Dschungel
Brieftasche. Aufgeregt machte Duane diese auf. Sie enthielt Briefe und Schecks, zwei Theaterkarten und im hinteren Fach einen Packen Banknoten. Er zählte die Scheine: ein Zwanziger, fünf Zehner, vier Fünfer und drei Einer. Duane pfiff durch die Zähne. »Damit sind wir aus dem Schneider«, sagte er.
Nach weiterer Prüfung verbrannten sie die Brieftasche samt Inhalt – ausgenommen natürlich die Geldscheine – und desgleichen das Bild eines kleinen Mädchens aus dem Medaillon. Darm brachte Duane die Uhr und die anderen Goldsachen hinunter zu dem Pfandleiher und kam zurück mit sechzehn Dollar. »Der alte Gauner behauptet, es wäre bloß Dublee«, sagte er. »Das ist gelogen, aber er weiß, ich brauche das Geld.«
Sie teilten den Ertrag, und Jurgis bekam als Anteil etwas über fünfundfünfzig Dollar. Er protestierte, das wäre zu viel für seine Mithilfe, aber Duane bestand darauf, halbe-halbe zu machen. Das sei ein guter Fang gewesen, erklärte er, besser als gewöhnlich.
Als sie am Morgen aufstanden, schickte er Jurgis gleich los, eine Zeitung zu kaufen; zu des Verbrechers Freuden, sagte er, gehöre es, hinterher über seine Tat zu lesen. »Ich hatte mal einen Kumpel, der machte das immer«, erzählte er lachend, »bis er eines Tages las, er habe in einer unteren Innentasche der Weste seines Opfers dreitausend Dollar steckenlassen!«
Es gab einen eine halbe Spalte langen Bericht über den Raubüberfall. Offenbar treibe in der Gegend eine Bande ihr Unwesen, schrieb das Blatt, denn dies wäre schon das dritte Vorkommnis dieser Art innerhalb einer Woche; die Polizei sei anscheinend machtlos. Bei dem Opfer handle es sich um einen Versicherungsvertreter, und man habe ihn um einhundertzehn Dollar erleichtert, die ihm nicht gehören. Zufällig sei sein Hemd mit seinem Namen gezeichnet gewesen, sonst hätte man ihn noch gar nicht identifizieren können, denn der Angreifer habe zu hart zugeschlagen, und der Mann liege jetzt mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Außerdem sei er, als man ihn fand, halb erfroren gewesen, und nun werde er an der rechten Hand drei Finger verlieren. Der eifrige Reporter hatte die Nachricht den Angehörigen überbracht und schilderte, wie sie aufgenommen worden war.
Da Jurgis so etwas zum ersten Mal erlebte, bereiteten ihm diese Einzelheiten natürlich Gewissensbisse. Sein Kumpan lachte jedoch kaltblütig: Das gehöre nun einmal mit dazu und lasse sich nicht ändern; bald werde auch Jurgis dem nicht mehr Gedanken widmen als die Männer in den Yards den Rindern, die sie schlachten. »Hier heißt es doch, entweder wir oder der andere. »Und da sag ich, dann allemal lieber der andere.«
»Trotzdem«, meinte Jurgis nachdenklich. »Er hatte uns doch nichts getan.«
»Aber sicher jemandem anders, und nicht zu knapp, worauf du Gift nehmen kannst«, sagte Duane.
Duane hatte seinem Freund bereits erklärt, daß ein Mann ihrer Zunft, wenn er erst einmal bekannt ist, pausenlos arbeiten müsse, um bezahlen zu können, was die Polizei an Schweigegeld verlangt. Deshalb sei es für Jurgis besser, sich draußen nicht zu zeigen, und schon gar nicht zusammen mit seinem Partner. Aber Jurgis wurde es bald leid, immer drinnen bleiben zu müssen. Nach ein paar Wochen fühlte er sich wieder stark genug, konnte auch seinen Arm schon fast ganz gebrauchen, und da hielt er es nicht mehr aus. Duane, der inzwischen allein einen Coup unternommen und sich mit der Obrigkeit arrangiert hatte, brachte Marie, seine kleine Französin, herüber, um sie mit Jurgis zu teilen, aber selbst das half nicht für lange, und schließlich mußte er seine Bedenken fallenlassen, Jurgis mitnehmen und ihn in den Kneipen, Wettlokalen, Spielhöllen und Bordellen einführen, wo die großen Gauner und Gangster verkehrten.
So erhielt er Einblick in die obere Kriminellenwelt Chicagos. Da die Stadt, die einer Oligarchie von Geschäftsleuten gehörte, nach außen hin ja vom Volk regiert wurde, war ein riesiges Heer gedungener Helfer und Helfershelfer nötig, um die Übertragung der Macht zu bewerkstelligen. Zweimal im Jahr, zu den Frühjahrs- und zu den Herbstwahlen, wurden von den Geschäftsleuten Millionen Dollar zur Verfügung gestellt und von diesem Heer aufgebraucht. Man hielt Versammlungen ab, für die gewandte Redner engagiert wurden, ließ Musikkapellen spielen, Feuerwerke abbrennen, tonnenweise Flugblätter verteilen, Freibier in Strömen fließen und kaufte gegen Handgeld Zehntausende von Stimmen. Das Heer mußte natürlich
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