Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
...«
    »Keinen Tropfen?«
    »Nun ja, ich ...«
    »Was haben Sie denn getrunken?«
    »Eine Flasche ... äh ... ich weiß nicht, was das war ... etwas, das so geprickelt hat ...«
    Wieder erhob sich Gelächter im Saal, das dann abrupt verstummte, als der Richter aufsah und mit gerunzelter Stirn unvermittelt fragte: »Sind Sie vorbestraft?«
    Das brachte Jurgis aus dem Konzept. »Ich ... ich ...« stammelte er.
    »Sagen Sie mir jetzt die Wahrheit!« Die Stimme des Richters hatte Befehlston angenommen.
    »Jawohl, Euer Ehren«, antwortete Jurgis.
    »Wie oft schon?«
    »Nur einmal, Euer Ehren.«
    »Und weswegen?«
    »Weil ich einen Meister zusammengeschlagen hatte, Euer Ehren. Ich arbeitete damals in den Yards, und er ...«
    »So, so«, sagte Seine Ehren. »Ich glaube, das genügt. Sie sollten das Trinken lassen, wenn Sie sich nicht in der Gewalt haben. Zehn Tage und Gerichtskosten. Nächster Fall.«
    Jurgis machte seiner Bestürzung durch einen Schrei Luft, den der Polizist jedoch rasch abwürgte, indem er ihn am Kragen packte und hinausschob in einen Raum zu den anderen Verurteilten. Dort saß Jurgis dann da und weinte in seiner ohnmächtigen Wut wie ein Kind. Es erschien ihm ungeheuerlich, daß bei der Polizei und vor Gericht sein Wort nichts galt gegenüber dem des Zapfers. Der gute Jurgis konnte ja nicht wissen: Der Besitzer der Kneipe zahlte dem Polizisten jede Woche allein dafür fünf Dollar, daß er beim verbotenen Sonntagsausschank die Augen zudrückte; und der boxende Schenkkellner war ein wichtiger Handlanger des demokratischen Partei-Bosses im Bezirk und hatte erst vor wenigen Monaten mitgeholfen, eine rekordbrechende Wahl zugunsten des Richters zu organisieren, der von pingeligen Reformern zur Zielscheibe ihrer Angriffe gemacht worden war.
     
    So kam Jurgis zum zweiten Mal ins Bridewell. Bei dem Handgemenge hatte er sich den Arm wieder verletzt, so daß er nicht arbeiten konnte und vom Anstaltsarzt behandelt werden mußte. Auch um den Oberkopf und über das Auge erhielt er einen Verband, und er bot einen jämmerlichen Anblick, als er am zweiten Tag nach seiner Einlieferung während der Auslaufstunde in den Gefängnishof hinausging – und dort Jack Duane begegnete!
    Der junge Mann freute sich so, Jurgis wiederzusehen, daß er ihm beinahe um den Hals gefallen wäre. »Mein Gott, wenn das nicht der Stinker ist!« rief er. »Aber was hast du – bist du durch eine Wurstmaschine gedreht worden?«
    »Nein«, antwortete Jurgis, »mich hat eine Lok gerammt, und außerdem hatte ich ‘ne Schlägerei.« Und dann erzählte er, während sich ein paar andere Häftlinge hinzugesellten, seine verrückte Geschichte. Die meisten glaubten ihm nicht, Duane aber wußte, daß Jurgis gar nicht der Typ war, sich ein solches Garn zurechtzuspinnen.
    »Pech, mein Alter«, sagte er, als sie wieder allein waren. »Aber vielleicht war’s dir eine Lehre.«
    »Ich habe inzwischen ohnehin einiges gelernt«, sagte Jurgis betrübt. Er berichtete Duane von seinem Sommer auf der Walze. »Und du?« fragte er dann. »Bist du noch von damals drin?«
    »Gott bewahre!« erwiderte Duane. »Nein, erst seit vorgestern. Ist nun schon das zweite Mal, daß sie mich unter fingierter Anklage einlochen. Ich habe in letzter Zeit nicht viel Geld machen können und bin nicht imstande zu zahlen, was sie verlangen. Jurgis, warum hauen wir beide nicht gemeinsam aus Chicago ab?«
    »Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen könnte«, sagte Jurgis traurig.
    »Ich eben auch nicht«, erklärte Duane und lachte leise. »Aber warten wir, bis wir hier raus sind, dann sehen wir weiter.«
    Im Bridewell traf Jurgis nur wenige, die schon damals dagewesen waren, dafür aber viele, viele andere, alte und junge, von genau der gleichen Sorte. Es war wie bei der Brandung am Strand: ständig neues Wasser, und die Welle trotzdem immer genauso aussehend. Jurgis schlenderte umher und unterhielt sich mit ihnen; die »schweren Jungs« erzählten von den großen Dingern, die sie gedreht hatten, während die kleinen Fische oder die Jüngeren und noch Unerfahrenen sich um sie scharten und in schweigender Bewunderung lauschten. Bei seinem ersten Hiersein hatte Jurgis an kaum etwas anderes gedacht als an seine Familie, aber jetzt konnte er unbelastet diesen Männern zuhören, und ihm wurde klar, daß er einer von ihnen war – daß ihre Einstellung zu den Dingen auch seine Einstellung war, daß die Art und Weise, wie sie sich durchs Leben schlugen, künftig auch die seine sein

Weitere Kostenlose Bücher