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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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Verlauf des Festes, das sich bis drei oder vier Uhr früh hinzog, sofern es nicht durch eine Schlägerei vorzeitig beendet wurde. Während der ganzen Zeit tanzten immer nur dieselben Paare miteinander, berauscht von Sinnlichkeit und Alkohol.
     
    Nicht lange, und Jurgis entdeckte, was Scully damit gemeint hatte, daß sich »etwas ergeben« könne. Ende Mai lief der Tarifvertrag zwischen den Fabrikanten und den Gewerkschaften ab, und es mußte ein neuer geschlossen werden. Die Verhandlungen waren im Gange, und in den Yards sprach alles von Streik. Die alten Tarife bezogen sich nur auf die Löhne der Facharbeiter, aber von den Mitgliedern der Meat Workers’ Union – des Gewerkschaftsbundes der Fleischindustrie – waren rund zwei Drittel ungelernt. In Chicago bekamen diese meist achtzehneinhalb Cent die Stunde, und das wollten die Gewerkschaften für nächstes Jahr überall als Satz festgelegt haben. Es war das bei weitem kein so hoher Lohn, wie es den Anschein hat – im Verlauf der Verhandlungen prüften die Gewerkschaftsfunktionäre Lohnkarten für fast zehntausend Dollar und stellten dabei fest, daß der höchste Wochenlohn vierzehn Dollar und der niedrigste zwei Dollar und fünf Cent betrug, während der Schnitt bei sechs Dollar und fünfundsechzig Cent lag. Und sechs Dollar fünfundsechzig waren wohl kaum zuviel für den Ernährer einer Familie. Da sich in den letzten fünf Jahren die Preise für Fleischwaren um nahezu fünfzig Prozent verteuert, die für Schlachtvieh sich hingegen um fünfzig Prozent verbilligt hatten, konnte man den Fabrikanten diese Tariferhöhung sehr wohl zumuten. Doch die waren dazu nicht bereit – sie wiesen die Forderung der Gewerkschaften zurück, und um keine Zweifel an ihren Absichten aufkommen zu lassen, setzten sie ein paar Wochen nach dem Ablaufen des Vertrages die Stundenlöhne von an die tausend Arbeitern auf sechzehneinhalb Cent herunter, und es hieß sogar, der alte Jones habe sich geschworen, nicht eher zu ruhen, bis er sie auf fünfzehn gedrückt hat. Eineinhalb Millionen Menschen im Lande suchten Arbeit, hunderttausend davon allein in Chicago – und da sollten die Fabrikanten Gewerkschaftsobleute bei sich einziehen und sich von ihnen an einen Vertrag binden lassen, der sie ein Jahr lang täglich etliche tausend Dollar kosten würde? Wohl kaum!
    All das begab sich im Juni, und bald darauf kam es in den Gewerkschaften zur Urabstimmung. Die Entscheidung lautete: Streik. In allen Großstädten mit fleischverarbeitender Industrie geschah dasselbe, und Presse und Öffentlichkeit wachten plötzlich auf, sahen das grausige Gespenst einer Fleischknappheit auf sich zukommen. Von allen möglichen Seiten wurde an die Fabrikanten herangetreten, die Sache doch noch einmal zu überdenken, aber sie blieben unnachgiebig und kürzten inzwischen weiter die Löhne, bestellten Viehlieferungen ab und ließen eilends ganze Waggonladungen von Feldbetten und Matratzen herbeischaffen. Das brachte die Arbeiter zum Überkochen, und eines Nachts gingen von der Geschäftsstelle des Gewerkschaftsbundes in Chicago Telegramme an alle anderen Fleischindustriezentren: St. Paul, Omaha, Sioux City, St. Joseph, Kansas City, St. Louis und New York. Am nächsten Tag dann, um Schlag zwölf Uhr mittags, legten fünfzig- bis sechzigtausend Leute ihre Arbeit nieder und marschierten aus den Schlachthöfen und Konservenfabriken hinaus. Der große »Fleisch-Streik« hatte begonnen.
     
    Jurgis ging erst einmal Mittag essen und suchte dann Mike Scully auf, der in einem schönen Haus in einer extra seinetwegen ordentlich gepflasterten und beleuchteten Straße wohnte.
    Scully, machte einen nervösen und besorgten Eindruck. »Was wollen Sie denn?« sagte er, als er Jurgis sah.
    »Mal fragen«, antwortete Jurgis, »ob Sie nicht vielleicht eine Arbeit für mich hätten – für die Zeit, solange der Streik dauert.«
    Scully legte die Stirn in Falten und faßte ihn scharf ins Auge. Am Morgen hatte Jurgis in der Zeitung einen von Scully verfaßten Angriff auf die Fabrikanten gelesen: Wenn sie ihre Arbeiter nicht besser behandeln, würden die städtischen Behörden einschreiten und ihre Fabriken niederreißen lassen. Jurgis war daher nicht wenig erstaunt, als Scully ihn jetzt fragte: »Hören Sie, Rudkus, warum bleiben Sie nicht einfach bei Ihrer Arbeit?«
    Jurgis fuhr zusammen. »Ich soll als Streikbrecher arbeiten?« rief er.
    »Warum denn nicht? Was macht Ihnen das schon?«
    »Aber ... aber ...« stammelte Jurgis. Irgendwie

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