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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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hatte er es für selbstverständlich gehalten, daß er mit seiner Gewerkschaft streikte.
    »Die Fabrikanten brauchen gute Leute«, fuhr Scully fort, »brauchen sie händeringend. Und wer jetzt zu ihnen hält, dem werden sie das hoch anrechnen. Warum nehmen Sie diese Gelegenheit nicht wahr und sichern sich eine gute Position?«
    »Aber«, sagte Jurgis, »wie könnte ich Ihnen dann je wieder von Nutzen sein – ich meine, politisch?«
    »Das könnten Sie ohnehin nicht«, gab Scully zurück.
    »Wieso nicht?«
    »Ja, Mann, haben Sie denn vergessen, daß Sie Republikaner sind? Glauben Sie, ich lasse immer die Republikaner siegen? Mein Brauereibesitzer hat bereits herausgefunden, wie wir ihn bedient haben, und da steht uns jede Menge Ärger ins Haus.«
    Jurgis schaute perplex drein. Von dieser Seite hatte er die Sache noch nicht betrachtet. »Ich könnte ja Demokrat werden«, meinte er schließlich.
    »Das schon», erwiderte der andere, »aber nicht so plötzlich. Man kann doch seine politische Überzeugung nicht von heute auf morgen wechseln. Außerdem brauche ich Sie nicht – ich habe nichts zu tun für Sie. Bis zur nächsten Wahl ist es ja noch lange hin, und was wollen Sie in der Zwischenzeit machen?«
    »Ich dachte«, setzte Jurgis an, »ich könnte auf Sie zählen ...«
    »Das können Sie auch«, unterbrach ihn Scully, »denn ich habe noch nie einen Freund im Stich gelassen. Aber ist es denn anständig, die Stelle, die ich Ihnen zugeschanzt habe, aufzugeben und zu verlangen, daß ich Ihnen eine andere besorge? Heute waren schon gut und gern hundert Leute bei mir. Was soll ich denn machen? Siebzehn Mann habe ich für diese Woche als Straßenkehrer auf die Lohnliste der Stadt gesetzt, aber glauben Sie denn, das geht ewig so? Anderen könnte ich das gar nicht erzählen, was ich Ihnen erzähle, doch Sie haben ja Einblick, und eben deshalb sollten Sie auch soviel Verstand haben, das von allein zu begreifen. Was hätten Sie denn durch einen Streik zu gewinnen?«
    »Das habe ich nicht bedacht«, sagte Jurgis.
    »Eben«, gab Scully zurück. »Das sollten Sie aber tun. Verlassen Sie sich drauf, der Streik ist in ein paar Tagen aus, und dann sind die Arbeiter geschlagen, aber was Sie dabei für sich rausholen, das bleibt Ihnen. Verstehen Sie?«
    Jurgis verstand. Er ging zurück zu den Yards und in die Ausschlachthalle. Die Arbeiter hatten eine lange Reihe Schweine in verschiedenen Stadien der Verarbeitung liegenlassen, und der Bandmeister leitete die kläglichen Versuche von ein, zwei Dutzend Kontoristen, Stenographen und Büroboten, die Arbeit zu Ende zu führen und das Fleisch in die Kühlhalle zu schaffen.
    Jurgis ging stracks zu ihm und meldete: »Bin zurück zur Arbeit, Mr. Murphy.«
    Das Gesicht des Meisters hellte sich auf. »Bravo!« rief er.
    »Na dann mal gleich ran!«
    »Moment noch«, sagte Jurgis, die Begeisterung des anderen dämpfend. »Ich finde, dafür sollte ich ein bißchen mehr Lohn kriegen.«
    »Aber gewiß doch. Wieviel verlangen Sie?«
    Jurgis hatte sich das unterwegs bereits überlegt. Jetzt verließ ihn zwar fast der Mut, doch er preßte die Hände zusammen und sagte: »Drei Dollar den Tag sollten es schon sein.«
    »Geht in Ordnung«, sagte der Meister prompt, und noch vor Feierabend entdeckte unser Freund, daß die Büro-Johnnys alle fünf Dollar bekamen. Da hätte er sich ohrfeigen können!
     
    So wurde Jurgis einer der neuen »Helden Amerikas«, ein Mann, dessen Tugenden den Vergleich mit denen der Lexington- und Valley-Forge-Märtyrer des Unabhängigkeitskrieges verdienten. Der Vergleich hinkt natürlich, denn Jurgis wurde großzügig besoldet, war zweckentsprechend gekleidet, hatte ein Feldbett mit Federboden und Matratze gestellt bekommen und erhielt drei kräftige Mahlzeiten am Tag; außerdem fühlte er sich durchaus wohl in seiner Haut und war keiner Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, es sei denn, übermächtiger Bierdurst verleitete ihn dazu, sich zu den Yard-Toren hinauszuwagen. Und selbst dabei ließ man ihn nicht ohne Schutz, denn ein Großteil der ohnehin schon zu wenigen Polizeikräfte Chicagos war plötzlich von der Verbrecherjagd abgezogen und eiligst hierherbeordert worden, um ihm zu Diensten zu stehen.
    Polizei wie Streikende waren entschlossen, Gewalt zu vermeiden, aber eine andere Gruppe hatte genau das Gegenteil im Sinn, und das war die Presse. Am ersten Tag seines Lebens als Streikbrecher machte Jurgis zeitig Feierabend und lud in Heldenlaune drei Bekannte ein, doch mit ihm

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