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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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und sah sich um, dann fuhr sie zusammen und sprang verblüfft auf. »Jurgis!«
    Eine Sekunde starrten sich beide an.
    »Wie kommst du denn hierher?« rief Marija.
    »Ich wollte zu dir«, antwortete er.
    »Wann bist du gekommen?«
    »Eben erst.«
    »Aber woher wußtest du ...? Wer hat dir gesagt, daß ich hier bin?«
    »Alena Jasaityte. Ich bin ihr auf der Straße begegnet.«
    Wieder schwiegen sie und musterten einander. Da die anderen sie beobachteten, stand Marija auf und kam zu ihm herüber.
    »Und du?« fragte Jurgis. »Wohnst du hier?«
    »Ja«, sagte Marija, »ich wohne hier.«
    Von unten ertönte plötzlich eine Stimme: »Zieht euch jetzt an, Mädels, und kommt. Beeilt euch ein bißchen, oder es wird euch leid tun – draußen regnet’s.«
    »Br-r-r!« machte eines der Mädchen und schüttelte sich. Sie und die anderen standen auf und verschwanden durch die diversen Türen, die von dem Flur abgingen.
    »Komm«, sagte Marija und nahm Jurgis mit in ihr Zimmer, einer Kammer von zwei mal zweieinhalb Meter, möbliert mit einer Bettstelle, einer Frisierkommode und einem Stuhl. Hinter der Tür hingen ein paar Kleider, und auch auf dem Fußboden lagen Kleidungsstücke herum; überall herrschte heillose Unordnung: auf der Kommode Hüte und schmutziges Geschirr zwischen Rouge-Dosen und Parfumfläschchen, auf dem Stuhl ein Paar Pantoffeln, eine Uhr und eine Whiskeyflasche.
    Marija hatte nichts weiter an als den Kimono und Strümpfe, doch zog sie sich ungeniert vor Jurgis um und machte sich auch nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Inzwischen war ihm klargeworden, in was für einem Haus er sich befand; seit er von daheim weggegangen war, hatte er etliches in der Welt gesehen und war nicht mehr leicht zu schockieren – und dennoch gab es ihm einen Stich ins Herz, daß Marija so etwas machte. Sie waren zu Hause doch anständige Leute gewesen, und er fand, die Erinnerung an die alten Zeiten hätte sie davon abhalten müssen. Doch dann lachte er sich selber aus: Er war gerade der Richtige, um Moral zu predigen!
    »Wie lange bist du schon hier?« erkundigte er sich.
    »Fast ein Jahr«, antwortete sie.
    »Und warum bist du hierhergegangen?«
    »Ich mußte leben«, sagte sie. »Außerdem konnte ich doch die Kinder nicht verhungern lassen.«
    Er machte eine Pause und schaute ihr beim Anziehen zu. »Du warst arbeitslos?«
    »Ich wurde krank«, sagte sie, »und danach war mein Geld alle. Als dann Stanislovas starb ...«
    »Stanislovas ist tot?«
    »Ja«, sagte Marija. »Hab ganz vergessen, daß du das ja nicht wissen kannst.«
    »Woran ist er denn gestorben?«
    »Ratten haben ihn umgebracht«, antwortete sie.
    Jurgis rang nach Luft. »Ratten?«
    »Ja«, sagte Marija. Sie bückte sich, um beim Reden ihre Stiefel zuzuschnüren. »Er arbeitete in einer Ölfabrik, das heißt, die Arbeiter dort hatten ihn zum Bierholen angeheuert. Er trug die Kannen an einer langen Stange und trank aus jeder immer ein bißchen ab. Und eines Tages hatte er zuviel getrunken, schlief in einer Ecke ein und wurde am Abend mit eingeschlossen. Als sie ihn dann fanden, war er schon hin, hatten ihn die Ratten schon fast ganz aufgefressen.«
    Jurgis war starr vor Entsetzen. Marija schnürte sich weiter die Stiefel zu. Sie schwiegen lange.
    Plötzlich erschien ein bulliger Polizist in der Tür. »Beeilen Sie sich mal ein bißchen!« befahl er.
    »So schnell ich kann«, gab Marija zurück. Sie stand auf und machte sich hastig daran, ihr Korsett anzulegen.
    »Aber die andern leben doch noch alle?« fragte Jurgis schließlich.
    »Ja«, sagte sie.
    »Und wo?«
    »Sie wohnen nicht weit von hier. Es geht ihnen jetzt gut.«
    »Arbeiten sie?« fragte er.
    »Elzbieta ja«, sagte Marija, »wenn sie kann. Meist sorge ich für sie alle – ich mache hier schönes Geld.«
    Jurgis schwieg ein Weilchen. Dann fragte er: »Wissen sie, wo du lebst – und wovon?«
    »Elzbieta schon«, antwortete Marija. »Ihr hätte ich nichts vormachen können. Und die Kinder ahnen es wohl inzwischen. Man braucht sich deswegen nicht zu schämen – wir können ja nichts dafür.«
    »Und Tamoszius?« fragte er. »Weiß er es?«
    Marija zuckte die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Er hatte sich eine Blutvergiftung geholt und einen Finger verloren. Er konnte nicht mehr Geige spielen, und er ist dann woanders hin.«
    Marija stand jetzt vor dem Spiegel und knöpfte ihr Kleid zu. Jurgis saß da und starrte sie an. Er konnte kaum glauben,

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