Der Dschungel
Des Senators hagere Gestalt wurde immer verschwommener, begann vor ihm zu schweben und schließlich mitsamt den Export-Import-Ziffern zu tanzen. Einmal bekam Jurgis von seinem Nachbarn einen kräftigen Stoß in die Rippen, so daß er zusammenzuckte, sich sofort hochrichtete und ein unschuldiges Gesicht zu machen suchte. Aber gleich darauf war er bereits wieder am Sägen, und die Umsitzenden fingen an, belästigte Blicke auf ihn zu werfen und ihrem Ärger Luft zu machen. Schließlich rief jemand einen Polizisten; der kam, packte den verschreckt aufwachenden und vor lauter Angst zitternden Jurgis am Kragen und zerrte ihn hoch. Einige Zuhörer drehten sich um, weil sie sehen wollten, wer da störte, und Senator Spareshanks stockte in seiner Rede, aber eine Stimme rief ihm fröhlich zu: »Wir schmeißen bloß eben einen Penner raus! Kannst weitermachen, alter Junge!« Die Menge lachte schallend, und der Senator lächelte jovial und fuhr fort. Wenige Sekunden später fand sich der arme Jurgis, mit einem Fußtritt und einem Schwall von Schimpfworten bedacht, draußen im Regen wieder.
In einem Torweg suchte er Schutz und zog Bilanz. Er war nicht verletzt, und man hatte ihn nicht festgenommen – das war mehr, als er erwarten konnte. Eine Weile verfluchte er sich und sein Pech, dann wandte er seine Gedanken wieder den praktischen Dingen zu. Er hatte kein Geld und keinen Schlafplatz, also mußte er weiterbetteln.
Mit hochgezogenen Schultern, in dem eiskalten Regen fröstelnd, ging er hinaus auf die Straße. Ihm entgegen kam, im Schutz eines Schirms, eine gutgekleidete Dame, und als sie heran war, drehte er sich um und lief neben ihr her.
»Bitte, Madam«, begann er, »könnten Sie mir nicht mit Geld für ein Nachtquartier aushelfen? Ich bin ein armer Arbeiter ...« Plötzlich hielt er inne. Im Licht einer Straßenlaterne hatte er das Gesicht der Dame gesehen. Er kannte sie.
Es war Alena Jasaityte, die die Schönste auf seiner Hochzeit gewesen war! Alena Jasaityte, die so bezaubernd ausgesehen und so prinzessinnenhaft mit dem Rollkutscher Juozas Raczius getanzt hatte! Jurgis hatte sie danach nur noch ein-, zweimal gesehen, denn sie war von Juozas einer anderen wegen sitzengelassen worden und dann aus Packingtown weggezogen; wohin, wußte niemand. Und nun traf er sie hier!
Sie war nicht weniger überrascht als er. »Jurgis Rudkus!« stieß sie hervor. »Um Himmels willen, was ist denn mit dir passiert?«
»Ich ... ich habe Pech gehabt«, stotterte er. »Ich habe weder Arbeit noch eine Bleibe. Und Geld natürlich auch nicht. Und du, Alena – bist du verheiratet?«
»Nein, bin ich nicht«, erwiderte sie. »Aber ich steh mich gut.«
Eine Weile sahen sie einander schweigend an.
Schließlich ergriff Alena wieder das Wort. »Jurgis«, sagte sie, »ich würde dir helfen, wenn ich könnte, bestimmt, doch zufällig bin ich ohne Portemonnaie ausgegangen und habe, ehrlich gesagt, keinen Cent bei mir. Aber ich weiß was Besseres – ich kann dir sagen, wo du Hilfe findest. Ich kann dir sagen, wo Marija ist.«
Jurgis fuhr zusammen. »Marija!«
»Ja«, sagte Alena, »und sie wird dir unter die Arme greifen. Sie hat eine Stelle, und sie verdient gut. Bestimmt freut sie sich, dich wiederzusehen.«
Etwas über ein Jahr war es her, daß Jurgis Packingtown verlassen hatte, so als wäre er aus einem Kerker geflohen; und es waren Marija und Elzbieta gewesen, vor denen er fliehen wollte. Aber jetzt, als er nur von ihnen hörte, hätte er vor Freude laut jauchzen mögen. Er wollte zu ihnen, wollte heim! Sie würden ihm helfen – würden gut zu ihm sein. Blitzschnell hatte er die Lage überdacht. Für sein Weglaufen konnte er einen guten Grund angeben: den Gram über den Tod seines Sohnes; und auch dafür, daß er nicht wieder zurückgekommen war, hatte er eine Entschuldigung: ihren Wegzug aus Packingtown. »Gut«, sagte er, »ich gehe hin.«
Alena nannte ihm eine Hausnummer in der Clark Street und fügte hinzu: »Meine Adresse brauch ich dir nicht zu geben, denn Marija kennt sie.«
Ohne weitere Umstände machte sich Jurgis auf den Weg. Er fand ein großes, herrschaftliches Haus vor, und er läutete im Souterrain.
Ein farbiges Dienstmädchen kam an die Tür, öffnete sie einen Spalt breit und musterte Jurgis mißtrauisch. »Was wolln Sie’n?«
»Wohnt hier Marija Berczynskas?« fragte er.
»Weiß ich nich«, antwortete das Mädchen. »Was wolln Sie’n von ihr?«
»Ich möchte sie besuchen«, erklärte Jurgis. »Sie ist eine
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