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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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daß dies dieselbe Marija war, die er früher gekannt hatte – sie war so kühl, so hart! Ihm wurde richtig angst, wenn er sie so sah.
    Dann warf sie ihm plötzlich einen Blick zu. »Du siehst aus, als hättest du’s auch nicht leicht gehabt«, sagte sie.
    »Stimmt«, antwortete er. »Ich habe nicht einen Cent in der Tasche und bin arbeitslos.«
    »Und wo bist du die ganze Zeit gewesen?«
    »Überall. Erst auf der Walze und dann wieder in den Yards – kurz vor dem Streik.« Er hielt einen Augenblick zögernd inne. »Ich hatte mich nach euch erkundigt und erfahren, daß ihr weggezogen wart. Wohin, konnte mir keiner sagen. Vielleicht findest du es gemein von mir, daß ich damals einfach davongelaufen bin, Marija ...«
    »Nein«, erwiderte sie, »ich mach dir keinen Vorwurf. Wir haben es dir nie übelgenommen, keiner von uns. Du hattest dein Bestes getan – aber es war für uns einfach nicht zu schaffen.« Sie sinnierte kurz vor sich hin und fügte dann hinzu: »Wir waren zu unwissend – das war’s. Wir hatten nicht die geringsten Aussichten. Hätte ich damals gewußt, was ich heute weiß ...«
    »Du wärst hierhergegangen?« fragte Jurgis.
    »Ja«, antwortete sie. »Aber das ist nicht das, worauf ich hinaus will. Ich meinte vielmehr dich: Wie anders du reagiert hättest – bei der Sache mit Ona.«
    Jurgis sagte nichts; dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen.
    »Wenn man am Verhungern ist«, fuhr Marija fort, »und etwas besitzt, das Wert hat, dann sollte man es verkaufen, meine ich. Jetzt, da es zu spät ist, siehst du das sicher ein. Ona hätte damals zu Anfang für uns alle sorgen können.« Marija sprach ohne Gefühlsbeteiligung, so wie jemand, der gelernt hat, die Dinge vom geschäftlichen Standpunkt aus zu betrachten.
    »Ich ... ja, kann schon sein«, sagte Jurgis langsam. Er erzählte nicht, daß er dreihundert Dollar und einen Vorarbeiterposten für die Genugtuung geopfert hatte, Connor ein zweites Mal zusammenzuschlagen.
    In diesem Moment erschien der Polizist wieder an der Tür. »Nun kommen Sie endlich«, befahl er, »und zwar ein bißchen dalli!«
    »Ja doch«, gab Marija zurück und griff nach ihrem Hut, der groß wie ein Wagenrad und mit Pleureusen besteckt war. Sie trat hinaus auf den Flur, und Jurgis folgte ihr; der Polizist blieb zurück, um unters Bett und hinter der Tür nachzuschauen.
    »Was wird das hier für Folgen haben?« fragte Jurgis, als sie die Treppe hinuntergingen.
    »Die Razzia, meinst du? Ach, gar keine – so was kommt hier öfter mal vor. Die Madame hat irgendwelchen Stunk mit der Polizei; warum, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich haben sie sich bis morgen früh geeinigt. Dir werden sie sowieso nichts tun. Die Männer lassen sie immer laufen.«
    »Die andern vielleicht schon«, erwiderte er, »aber mich bestimmt nicht. Ich fürchte, ich bin geliefert.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich werde von der Polizei gesucht.« Er senkte die Stimme, obwohl sie sich natürlich in litauisch unterhielten. »Auf ein, zwei Jahre muß ich mich wohl gefaßt machen.«
    »Verdammt!« sagte Marija. »Das ist Pech. Mal sehen, was ich machen kann, vielleicht krieg ich dich frei.«
    Unten, wo die Mehrzahl der Festgenommenen schon versammelt war, drängte sie sich zu der fülligen Frau mit den Brillantohrringen durch und flüsterte ihr etwas zu.
    Die Madame ging daraufhin zu dem Polizisten, der das Kommando führte. »Billys sagte sie zu ihm und zeigte auf Jurgis, »der da ist bloß seine Schwester besuchen gekommen. Er war gerade erst zur Tür rein, als ihr kamt. Ihr nehmt doch keine Tramps mit, oder?«
    Der Sergeant lachte, als er Jurgis sah. »Tut mit leid«, erklärte er, »aber der Befehl lautet, alle, außer den Dienstboten.«
    So mischte sich Jurgis unter die übrigen Männer, die sich wie Schafe, die den Wolf wittern, einer hinter dem anderen zu verkriechen suchten. Es waren junge und alte Männer, College-Boys und Graubärte, die deren Großväter hätten sein können; einige trugen Abendanzüge – mit Ausnahme von Jurgis ließ keiner Anzeichen von Armut erkennen.
    Als alle zusammengetrieben waren, wurden die Türflügel geöffnet, und die Gesellschaft marschierte hinaus. Am Bordstein standen drei Polizeiwagen, und die gesamte Nachbarschaft war herausgekommen, um sich den Spaß anzusehen; die Festgenommenen wurden tüchtig aufgezogen, und alles reckte sich den Hals nach ihnen aus. Die Frauen blickten herausfordernd um sich oder lachten und machten Witze, während die Männer die Köpfe

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