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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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gesenkt hielten und sich die Hüte tief ins Gesicht zogen. Sie wurden in die Wagen hineingepfercht wie in die Straßenbahn, und ab ging’s unter lautem Hallo. Auf der Wache gab Jurgis einen polnischen Namen an und wurde zusammen mit einem halben Dutzend Männern in eine Zelle gesperrt. Und während die anderen dasaßen und sich flüsternd unterhielten, legte er sich in eine Ecke und hing seinen Gedanken nach.
    Jurgis hatte in die tiefsten Abgründe der Gesellschaft hineingesehen und sich an den Anblick gewöhnt. Aber wenn er auch die gesamte Menschheit für verderbt und verabscheuenswert hielt, so hatte er doch stets seine eigene Familie, die er liebte, davon ausgenommen – und nun auf einmal diese schreckliche Entdeckung: Marija war eine Hure, und Elzbieta und die Kinder lebten von ihrer Schande! Jurgis mochte sich vorhalten, was er wollte – daß er selber Schlimmeres getan habe und daß es Torheit wäre, sich etwas daraus zu machen –, dennoch konnte er den Schock dieser plötzlichen Enthüllung nicht verwinden, war machtlos gegen den Kummer darüber, der ihn überwältigte. Er war im Innersten getroffen und erschüttert; Erinnerungen wurden in ihm wach, die so lange geschlummert hatten, daß sie ihm schon tot erschienen waren, Erinnerungen an das alte Leben – an seine alten Hoffnungen und Sehnsüchte, an seine alten Träume von Anständigkeit und Unabhängigkeit! Er sah Ona wieder vor sich, hörte ihre sanfte Stimme ihn anflehen. Er sah den kleinen Antanas, aus dem er einen Mann hatte machen wollen. Er sah seinen klapprigen alten Vater, der sie alle mit seiner wunderbaren Liebe beschenkt hatte. Er durchlebte noch einmal jenen furchtbaren Tag, an dem er hinter Onas Schande gekommen war – Gott, was hatte er gelitten! Wie ein Verrückter hatte er sich aufgeführt! Wie entsetzlich war ihm das damals alles erschienen, und heute hatte er ruhig zugehört und fast beigepflichtet, als Marija ihm sagte, daß er töricht gewesen sei – daß er die Ehre seiner Frau hätte verkaufen und davon leben sollen! Und dann Stanislovas und sein schreckliches Ende – diese kurze Geschichte, die Marija so gelassen erzählt hatte, mit so stumpfer Gleichgültigkeit. Der arme kleine Kerl mit seinen erfrorenen Fingern und seinem Horror vor dem Schnee – wie Jurgis da so im Dunkeln lag, klang ihm das Wimmern wieder in die Ohren, bis ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Ab und zu durchlief ihn ein plötzlicher Schauder des Entsetzens, wenn er sich vorstellte, wie der kleine Stanislovas mutterseelenallein in dem Gebäude eingeschlossen gewesen war und mit den Ratten um sein Leben gekämpft hatte!
    Alle diese Gefühle waren Jurgis fremd geworden; die Zeit, da er von ihnen gequält worden war, lag so weit zurück, daß er geglaubt hatte, sie könnten ihm nie wieder zu schaffen machen. Was sollten sie ihm, der hilflos in der Falle saß, denn auch nutzen – warum sollte er sich von ihnen foltern lassen? Das ganze Leben, das er in letzter Zeit geführt hatte, war ja darauf ausgerichtet gewesen, sie niederzukämpfen, sie zu ersticken; nie wieder hätten sie ihn belästigen können, wäre er jetzt nicht so unerwartet von ihnen überfallen worden. Er hörte die alte Stimme seines Herzens, sah die alten Geister seiner Seele winken und die Arme nach ihm ausstrecken! Aber sie waren weit weg und verschwommen, und die Kluft zwischen ihm und ihnen war schwarz und abgrundtief; sie würden wieder in den Nebeln der Vergangenheit zerfließen. Ihre Stimmen würden verhallen, und nie wieder würde er sie vernehmen – und so würde auch der letzte schwache Funke von Menschlichkeit in seiner Seele verlöschen.

28
    Nach dem Frühstück wurde Jurgis zum Gericht gefahren. Der Saal war überfüllt von Festgenommenen und von Zuschauern, die aus Neugier oder in der Hoffnung gekommen waren, den einen oder anderen der Männer zu erkennen, um ihn dann erpressen zu können. Die Männer wurden zuerst aufgerufen, alle zusammen, dann verwarnt und anschließend entlassen. Jurgis mußte zu seinem Schrecken allein nach vorn, da sein Fall verdächtig schien. Hier hatte er schon einmal vor Gericht gestanden, damals, als er zu einer Geldstrafe verurteilt und diese »ausgesetzt« worden war; es waren derselbe Richter und derselbe Sekretär. Der letztere musterte Jurgis jetzt kritisch, als habe er das Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben. Der Richter aber schöpfte keinen Verdacht – seine Gedanken waren im Augenblick ganz woanders, denn er wartete auf einen

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