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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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telephonischen Anruf vom Polizei-Captain des Bezirks, wie er im Fall Polly Simpson – der Madame des Etablissements – verfahren solle. Währenddessen hörte er sich die Geschichte an, wie Jurgis seine Schwester gesucht habe, riet ihm dann trocken, diese besser unterzubringen, und ließ ihn gehen. Anschließend legte er jedem der Mädchen fünf Dollar Strafe auf, die Madame Polly gleich für alle aus einem Bündel Banknoten bezahlte, die sie aus ihrem Strumpf zog.
    Jurgis wartete draußen auf Marija und ging mit ihr zurück. Die Polizei hatte das Haus inzwischen verlassen, und schon stellten sich neue Gäste ein; bis zum Abend würde es wieder vollen Betrieb geben, so als wäre nichts geschehen. Marija nahm Jurgis mit hinauf in ihr Zimmer, wo sie sich hinsetzten und sich unterhielten. Jetzt, bei Tageslicht, konnte Jurgis sehen, daß das Rot ihrer Wangen nicht mehr die alte natürliche Farbe blühenden Lebens war; ihre Haut war in Wirklichkeit pergamentgelb, und um die Augen hatte sie dunkle Ringe.
    »Bist du krank gewesen?« fragte er.
    »Krank – Himmel Herrgott!« Marija hatte sich angewöhnt, ihre Rede mit Flüchen zu spicken wie ein Hafenarbeiter oder ein Maultiertreiber. »Was kann ich denn bei diesem Leben anderes als krank sein!«
    Sie schwieg eine Weile und starrte düster vor sich hin. »Es ist das Morphium«, sagte sie dann. »Ich scheine von Tag zu Tag mehr davon zu brauchen.«
    »Wozu ist das?« fragte er.
    »Das gehört nun mal dazu, warum, weiß ich auch nicht. Und wenn nicht das, dann eben das Trinken. Ohne zu saufen, würden’s die Mädchen hier gar nicht aushalten. Wenn sie noch neu sind, gibt ihnen die Madame immer Rauschgift, und sie gewöhnen sich schnell daran, oder aber sie nehmen es gegen Kopfschmerzen und so und werden auf diese Weise süchtig. Ich jedenfalls bin es. Ich versuche immer wieder mal, es sein zu lassen, aber solange ich hier bin, werd ich das nie schaffen.«
    »Wie lange willst du hier bleiben?« fragte er.
    »Keine Ahnung«, sagte sie. »Für immer, schätze ich. Was soll ich denn sonst machen?«
    »Sparst du dir nichts?«
    »Sparen – heilige Einfalt, nein! Verdienen tu ich sicher genug, aber es geht alles wieder drauf. Ich kriege fünfzig Prozent, das sind pro Freier zweieinhalb Dollar, und manche Nacht verdiene ich fünfundzwanzig bis dreißig. Davon, so sollte man meinen, müßte sich doch was auf die hohe Kante legen lassen. Aber schließlich muß ich für mein Zimmer und mein Essen zahlen – und die nehmen mir hier Preise ab, wie du sie dir gar nicht vorstellen kannst – dazu noch endlose Nebenkosten und die Getränke, einfach für alles, was ich bekomme, und sogar für manches, was ich nicht bekomme. Allein meine Wäschereirechnung macht fast zwanzig Dollar die Woche – stell dir das vor! Doch was soll ich dagegen tun? Entweder ich laß es mir gefallen, oder ich gehe, und anderswo ist es genauso. Mit Mühe und Not zweige ich jede Woche die fünfzehn Dollar ab, die ich Elzbieta gebe, damit die Kinder zur Schule gehen können.«
    Marija brütete eine Zeitlang vor sich hin, aber als sie Jurgis’ Interesse sah, fuhr sie fort: »So hält man die Mädchen fest: Man läßt sie Schulden machen, damit sie nicht weglaufen können. Kommt so ein junges Ding aus dem Ausland, kann kein Wort Englisch und gerät in ein Haus wie das hier, und wenn sie wieder weg will, zeigt die Madame ihr, daß sie mit ein paar hundert Dollar in der Kreide steht, nimmt ihr all ihre Kleider weg und droht, sie einsperren zu lassen, wenn sie nicht bleibt und tut, was man ihr sagt. Also bleibt sie, und je länger, um so tiefer gerät sie in Schulden. Oft sind es auch Mädchen, die gar nicht wußten, wo sie landen würden – die sich als Haushilfen verdingt hatten. Hast du die kleine Französin gesehen, die im Gerichtssaal neben mir stand?«
    Jurgis nickte.
    »Nun, die ist vor ungefähr einem Jahr eingewandert. Sie war Verkäuferin in einem Warenhaus und ließ sich dann von einem Mann als Fabrikarbeiterin für Amerika anwerben. Sie waren zu sechst und wurden in ein Haus hier in der Straße gebracht. Diese Französin bekam ein Zimmer für sich allein, und sie mischten ihr was ins Essen, und als sie wieder zu sich kam, merkte sie, daß man ihr Gewalt angetan hatte. Sie weinte, schrie, raufte sich die Haare, aber sie hatte nichts weiter als einen Morgenmantel und konnte nicht weg. Man hielt sie die ganze Zeit mit Drogen halb bewußtlos, bis sie schließlich nachgab. Zehn Monate lang ließ man sie

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