Der Dschungel
überhaupt nicht aus dem Haus, und dann wurde sie fortgejagt, weil sie sich nicht eignete. Und ich schätze, hier wird man sie auch nicht behalten – sie hat immer so komische Anfälle, weil sie Absinth trinkt. Entwischt ist von den Mädchen, die mit ihr zusammen kamen, nur eine, und die ist eines Nachts aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen. Es hat damals großen Wirbel darum gegeben – vielleicht hast du davon gehört.«
»Ja«, sagte Jurgis, »ich kann mich erinnern.« Es war in dem Bordell gewesen, wo er und Duane nach ihrem Überfall auf den »Provinzterrier« Unterschlupf gefunden hatten. Zum Glück für die Polizei war das Mädchen wahnsinnig geworden.
»Damit ist ein Haufen Geld zu machen«, fuhr Marija fort. »Für jedes Mädchen kriegen sie vierzig Dollar, und sie holen sie von sonstwo her. Hier sind wir siebzehn und aus neun verschiedenen Ländern; in andern Häusern findet man manchmal sogar noch mehr Nationalitäten vertreten. Wir haben ein halbes Dutzend Französinnen, wohl weil die Madame die Sprache kann. Aber Französinnen sind schlecht, sind die Schlimmsten von allen, abgesehen von den Japanerinnen. Nebenan haben sie lauter Japanerinnen, und mit nicht einer von denen möchte ich unter einem Dach leben.« Marija machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Übrigens, die meisten Frauen hier sind ganz anständig – du würdest staunen. Früher dachte ich immer, sie tun es, weil es ihnen Spaß macht. Aber wenn eine Frau sich an jeden verkauft, ob jung oder alt, weiß oder schwarz, wie soll sie dann noch Spaß daran haben?«
»Manche behaupten das aber«, widersprach Jurgis.
»Ich weiß«, antwortete sie. »Sie behaupten alles mögliche. Sie sind nun mal drin und wissen, daß sie nicht wieder raus können. Doch glaub mir, am Anfang hat es ihnen bestimmt keinen Spaß gemacht – sie haben immer nur aus Not damit angefangen! Hier bei uns ist eine kleine Jüdin, die arbeitete als Botin in einem Hutsalon, wurde dann krank und verlor ihre Stelle. Sie lief vier Tage mit leerem Magen durch die Straßen, bis sie vor Hunger nicht mehr aus und ein wußte und sie in ein Haus hier gleich um die Ecke ging und sich anbot. Doch ehe die ihr etwas zu essen gaben, nahmen sie ihr die Kleider weg!«
Ein paar Minuten hing Marija ihren düsteren Gedanken nach. »Erzähl mir doch was von dir, Jurgis«, sagte sie dann. »Wo warst du die ganze Zeit?«
Da berichtete er ihr von all seinen Erlebnissen seit seiner Flucht von zu Hause: von seinem Leben als Tramp, von seiner Arbeit beim Frachttunnelbau und seinem Unfall, dann von Jack Duane und schließlich von seiner politischen Karriere in den Yards und seinem Sturz samt den Folgen.
Marija hörte teilnahmsvoll zu; daß er in letzter Zeit Hunger gelitten hatte, war leicht zu glauben, denn es stand ihm im Gesicht geschrieben. »Da hast du mich ja gerade zur rechten Zeit gefunden«, sagte sie. »Ich helfe dir, bis du Arbeit gefunden hast.«
»Ich möchte nicht, daß du ...« begann er.
»Warum denn nicht? Weil ich hier bin?«
»Nein, nicht deswegen«, erklärte er. »Aber schließlich bin ich damals weggelaufen und habe euch allein gelassen ...«
»Unsinn!« unterbrach sie ihn. »Da mach dir man keine Gedanken darüber. Ich werfe dir nichts vor.« Sie schwieg wieder ein Weilchen und sagte dann plötzlich: »Du mußt hungrig sein. Bleib zum Mittag hier. Ich laß uns was raufbringen.«
Sie drückte auf einen Klingelknopf, und eine Negerin erschien an der Tür und nahm ihre Bestellung entgegen. »Es ist herrlich, sich bedienen zu lassen«, meinte Marija lachend, während sie sich auf dem Bett zurücklehnte.
Da das Frühstück im Gefängnis nicht gerade opulent gewesen war, hatte Jurgis mehr als guten Appetit, und so schmausten sie zusammen und unterhielten sich dabei von Elzbieta, den Kindern und den alten Zeiten. Kurz bevor sie mit dem Essen fertig waren, kam ein anderes farbiges Mädchen und meldete, die Madame wünsche Marija zu sehen – die »Litauer-Mary«, wie sie hier genannt wurde.
»Das bedeutet, daß du jetzt gehen mußt«, sagte Marija zu Jurgis. Er stand auf, und sie gab ihm die neue Adresse der Familie, eine Wohnung im Judenviertel. »Hab keine Angst – sie werden sich freuen, dich wiederzusehen.«
Doch Jurgis zögerte. »Ich ... ich möchte nicht hingehen. Ehrlich gesagt, Marija, warum gibst du mir nicht ein bißchen Geld und läßt mich erst mal Arbeit suchen?«
»Wieso Geld?« lautete ihre Antwort. »Alles, was du brauchst, ist doch was zu
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