Der Dschungel
seinem üblichen erschreckten Ruck hochfuhr. Natürlich hatte er geschnarcht! Was nun? Mit äußerster Anstrengung richtete er den Blick geradeaus und starrte zur Rednertribüne, als hätte ihn nie etwas anderes interessiert oder könnte ihn jemals im Leben etwas anderes interessieren. Im Geiste hörte er schon die ärgerlichen Ausrufe, spürte die feindlichen Blicke und sah den Polizisten auf sich zusteuern, um ihn am Schlafittchen zu packen. Oder hatte er Glück gehabt, und wollten sie es ihm für diesmal durchgehen lassen? Zitternd saß er da und wartete ...
Da drang plötzlich eine Stimme an sein Ohr, eine sanfte Frauenstimme: »Versuchen Sie doch mal zuzuhören, Genosse, vielleicht interessiert es Sie.«
Jurgis glaubte, sich verhört zu haben. Wer redete ihn da so freundlich an? Er hielt die Augen noch immer geradeaus gerichtet und rührte sich nicht. So wartete er lange, und erst als er sicher war, nicht mehr beobachtet zu werden, schielte er zu der Frau hin, die neben ihm saß. Sie sah jung und schön aus; sie war elegant gekleidet und augenscheinlich das, was man eine Dame nennt. Und die sagte »Genosse« zu ihm!
Vorsichtig drehte er sich ein wenig zur Seite, um sie besser sehen zu können, und bald betrachtete er sie wie gebannt. Sie hatte ihn offenbar völlig vergessen und blickte zum Podium. Dort redete ein Mann – Jurgis vernahm undeutlich seine Stimme, doch er hatte nur Gedanken für das Gesicht dieser Frau. Während er sie so anschaute, überkam ihn Besorgnis; ihm wurde richtig unheimlich zumute. Was war los mit ihr, was ging hier vor, daß jemand davon so ergriffen sein konnte? Sie saß da wie versteinert, hielt die Hände fest im Schoß zusammengepreßt, so fest, daß an den Handgelenken die Sehnen hervortraten. Ihr Gesicht spiegelte Erregung und äußerste Anspannung, wie bei jemandem, der mit aller Kraft kämpft oder mit innerer Beteiligung einem Kampf zuschaut. Ihre Nasenflügel bebten leicht, und ab und zu feuchtete sie sich hastig die Lippen an. Bei ihren Atemzügen hob und senkte sich ihre Brust, und ihre Erregung schien fortwährend zu steigen und dann wieder zu sinken, wie ein Boot, das auf Meereswogen auf und ab tanzt. Was hatte sie? Was war der Grund? Es mußte mit dem zusammenhängen, was der Mann da vorn am Rednerpult sagte. Was war das für einer? Und um was ging es hier überhaupt? So kam es Jurgis schließlich ein, sich den Redner anzuschauen.
Es war wie ein plötzlicher Ausblick auf ein Stück wilde Natur, auf einen vom Sturm gepeitschten Bergwald, auf ein von aufgewühlter See hin und her geworfenes Schiff. Jurgis beschlich ein unangenehmes Gefühl, ein Empfinden von Durcheinander, von Unordnung, von wirrem und sinnlosem Aufbegehren. Der Mann war groß und hager, dabei so abgezehrt wie Jurgis selbst; ein dünner schwarzer Bart verdeckte die Hälfte seines Gesichts, und dort, wo die Augen waren, sah man nur zwei dunkle Höhlen. Er sprach schnell, aufgeregt und mit vielen Gesten – ging beim Reden auf dem Podium auf und ab und holte mit seinen langen Armen aus, als wolle er jeden einzelnen Zuhörer zu sich heranziehen. Seine tiefe Stimme klang voll wie eine Orgel, doch dauerte es eine weile, bis Jurgis auf sie achtete – er war viel zu sehr mit den Augen des Mannes beschäftigt, um auch noch aufmerksam seinen Worten zu lauschen. Auf einmal aber schien es ihm, als deute der Redner genau auf ihn, als habe er sich ganz besonders ihn ausgesucht für das, was er sagte. So wurde sich Jurgis plötzlich auch dieser Stimme bewußt, die vor Bewegtsein zitterte und bebte, vor Schmerz und Sehnsucht, unter einer Last unsagbarer Dinge. Diese Summe nahm einen unvermittelt gefangen, packte einen, ließ einen nicht mehr los.
»Ihr hört euch das alles an«, sagte der Mann, »und ihr sagt: ›Ja, das stimmt, aber so war es doch schon immer.‹ Oder: ›Kann ja sein, daß es mal anders wird, aber nicht, solange ich lebe – mir wird das nichts mehr nutzen.‹ Und dann kehrt ihr zurück zu eurer täglichen Schinderei, geht hin und laßt euch in der weltweiten Mühle ökonomischer Macht zu Profit zermahlen. Rackert euch endlose Stunden zu anderer Gewinn ab, wohnt in erbärmlichen Elendsquartieren, werkt an gefährlichen und ungesunden Arbeitsplätzen, ringt mit dem Gespenst des Hungers und der Not, riskiert Unfälle, Krankheit und Tod. Und jeden Tag wird der Kampf verbissener und das Tempo mörderischer; jeden Tag müßt ihr ein bißchen mehr schuften und spürt die Eisenfaust der Verhältnisse sich
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