Der Dschungel
ein bißchen enger um euch schließen. Monate vergehen, vielleicht auch Jahre – und dann kommt ihr wieder her, und ich stehe abermals hier, wende mich wieder an euch, um zu sehen, ob Not und Elend schon ihr Werk an euch vollbracht, ob Ungerechtigkeit und Unterdrückung euch schon die Augen geöffnet haben! Ich werde weiter auf euch warten – mehr kann ich nicht tun. Es gibt keine Wildnis, wo ich mich vor diesen Wahrheiten verstecken, keinen Zufluchtsort, wohin ich vor ihnen fliehen könnte; und wanderte ich auch bis ans Ende der Welt, überall fände ich dasselbe verruchte System – fände ich all die guten und edlen Regungen der Menschheit, die Träume der Dichter und die Leiden der Märtyrer gefesselt und eingespannt in den Dienst der organisierten Hab- und Raubgier! Und deshalb kann ich nicht schweigen; darum verzichte ich auf Bequemlichkeit und Glücklichsein, Gesundheit und Ansehen und ziehe hinaus in die Welt und schreie meine Seelenqual heraus! Weder Armut noch Krankheit, weder Haß noch Verleumdung, weder Drohungen noch Spott werden mich zum Schweigen bringen – selbst Verfolgung und Gefängnis nicht, wenn auch das noch kommen sollte nein, keine Macht, die es auf oder über dieser Erde gibt oder geben wird! Erreiche ich es heute abend nicht, kann ich es morgen wieder versuchen, denn ich weiß, daß der Fehler bei mir liegen muß – ich weiß, wenn es gelingt, der Vision meiner Seele hier auf Erden nur einmal den richtigen Ausdruck zu verleihen, die Qualen des Mißerfolgs nur einmal in die richtigen Worte zu fassen, würde das auch die stärksten Mauern der Voreingenommenheit einreißen und das trägste Herz zur Tat wachrütteln! Die zynischsten Spötter wären beschämt, die größten Egoisten entsetzt über sich; die Stimme des Hohns wäre zum Schweigen gebracht, Lug und Trug schlichen zurück in ihre Höhlen, und allein die Wahrheit träte hervor! Denn ich spreche für die Millionen, die ohne Stimme sind! Für die Unterdrückten, die niemand tröstet! Für die vom Leben Enterbten, für die es keine Ruhe und keine Erlösung gibt, für die die Welt ein Kerker ist, eine Folterkammer, eine Gruft! Ich spreche für das kleine Kind, das heute abend in einer Baumwollspinnerei der Südstaaten schuftet, taumelnd vor Erschöpfung, stumpf vor Qual, und keine andere Hoffnung kennt als das Grab! Ich spreche für die Mutter, die bei Kerzenlicht in ihrer Dachkammer näht, müde und unter Tränen, gepeinigt von dem grausamen Hunger ihrer Kinder. Für den Mann, der auf einem Lumpenlager mit dem Tode ringt und seine Lieben in dem Bewußtsein verlassen muß, daß sie zugrunde gehen werden. Für das junge Mädchen, das in diesem Augenblick irgendwo erschöpft und halb verhungert durch die Straßen dieser furchtbaren Stadt läuft und seine Wahl trifft zwischen dem See und dem Bordell! Ich spreche für alle, wer immer und wo immer sie auch sein mögen, die in die Gewalt des Molochs Habgier geraten sind! Für die Menschheit, die nach Befreiung schreit! Für die unsterbliche Menschenseele, die sich aus dem Staub erhebt und aus ihrem Kerker ausbricht – die die Fesseln der Tyrannei und Unwissenheit sprengt und sich den Weg zum Licht ertastet!«
Der Redner machte eine Pause. Einen Augenblick herrschte Schweigen, während die Zuhörer Luft holten, und dann erscholl aus tausend Kehlen ein einziger Aufschrei. Die ganze Zeit über hatte Jurgis still dagesessen, bewegungslos, starr, den Blick auf den Redner gerichtet; ein Beben durchlief ihn, er war fassungslos vor Staunen.
Plötzlich hob der Mann die Hände, und es wurde wieder ruhig. Dann fuhr er mit seiner Rede fort.
»Ich wende mich an euch«, sagte er, »wer ihr auch sein mögt, vorausgesetzt daß es euch um die Wahrheit geht. Vor allem aber wende ich mich an die Arbeiter, an jene, für die die Übel, die ich schildere, nicht bloß eine Sache des Mitgefühls sind, etwas, mit dem man herumspielt und sich die Zeit vertreibt und das man dann vielleicht wieder beiseite legt und vergißt – an jene, für die diese Übel bittere, erbarmungslose Wirklichkeit sind, die tagtägliche Tretmühle, die Ketten um ihre Glieder, die Knute auf ihrem Rücken, die Fesseln an ihrer Seele. An euch wende ich mich, Arbeiter! An euch, die ihr euch schindet, die ihr dieses Land geschaffen habt und es doch nicht mitregieren dürft! An euch, deren Los es ist, zu säen, damit andere ernten können, sich zu plagen und zu gehorchen und nicht mehr als den Lohn eines Lasttieres zu verlangen, Nahrung und
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